Kurtlar.
	Organ
der deutschen Kunstvereine.
	G4eitung
fiir bildende Kunst und Baukunst,
	Unter Mitwirkung von
		Kugler in Berlin — Passavant in Frankfurt — Waagen in Berlin — Wiegmann in Diisseldorf — Schnaase
in Berlin — FGrster in Miinchen — Eitelberger v. Edelberg in Wien
			herausgegeben von Dr. F. Hgegers in Berlin.
	Sonnabend, den 15. October.
	Зира: Bau-Sagen. F. Kugler. I. Von den Pyramiden Aegyptens. —
Arabesken-Fries Kaulbach’s im neuen Museum zu Berlin. F. E. (Шек
	Paul Delaroche’s Hémicycle. W. Liibke. — Die Schlussgruppe aus dem
	(Hierzu ein Kupferstich.) —- Kunstiiteratur. Die Geschichte des deutschen Volkes
	in funfzehn grossen Bildern dargestellt von K. H. Hermann. (Schluss.) Fr. Eggers. — d4eitung. Berlin. Dresden. Nurnberg. — Kunstvereine.
	Nachwort des Redakteurs.
	— Berichtigung. — Anzeige.
	‘Hauptcourshilder der Kunstvereme. Dr. Lucanus.
	Bau-Sagen.
Von F. Kugler.
	kein andres Werk, das von Menschenhanden gebaut worden.
Die erste und zweite gleichen den Massen des Gebirges, 4ез-
sen Wachsthum Niemand geschaut hat; der Pfeil des wacker-
sten Bogenschiitzen fliegt lange nicht bis zur Halfte ihrer Hohe
empor. Die dritte ist minder gewaltig, aber ihre Ausfiihrung
ist von allen die sorglichste. Drei kleine Pyramiden stchen
zur Seite der ersten.

Seit tausend und aber tausend Jahren sind die Pyramiden
das Staunen der Menschen gewesen. Die Welt des Alterthums
zahlte sie zu ihren sieben Wunderwerken. Als das alte Aegypten
seine Hafen den fremden Vélkern aufgethan hatte und sie aus
der Ferne kamen, Gold zu erhandeln auf den Marktplitzen und
Weisheit in den Zellen der Priester, da war es das redsame
Geschlecht der Dolmetscher, welches dem reisenden Griechen
iber die Pyramiden mancherlei Kunde gab.

Cheops war der Kénig geheissen, der die erste Pyramide
haute. Es war eine Zeit arger Frohne fir das Volk. Denn
nur dieses Baues und dass er ihm ein Denkmal werde, wie
keins auf der Welt, dachte der Kénig; alle Tempel liess er
schliessen, keine Opfer den Goltern bringen; nur arbeiten sollte
das Volk an diesem Bau. Je drei Monate waren unablassig
zehnmal zehntausend Menschen in das Jochder Arbeit gespannt.
Zehn Jahre hatten sie Steine zu brechen driiben im arabischen
Gebirge und sie iiber das Thal und Uber den Nil und empor
zu den Héhen des Pyramidenfeldes zu schleppen; ein eigner
machtiger Dammweg, schon an sich ein staunenswerthes Werk,
wurde dazu gebaut. ‘ief aber unter der Stelle, wo die Py-
ramide stehen sollte, ward die Kammer ausgegraben, die der-
einst den Leichnam des Kéniges aufnehmen sollte, und ein un-
terirdischer Kanal des Nils, wie sie erzahlten, ward hereinge-
fihrt, ringsher um das Grab, dass es wie in einer unterirdi~
schen Insel lag. Und zwanzig Jahre dauerle dic Aufrichtung
der Pyramide selbst. Aussen an der Pyramide waren agypli-
sche Inschriften, unverstindlich dem Fremden; aber die Dol-
metscher lasen sie dem Reisenden in der Sprache seines Volkes.
Darin stand, dass, was die Arbeiter in der Zeit des Baues an
Rettichen, Zwiebeln und Knoblauch verzchrt, die Summe von
cintausend sechshundert Silbcrialenten gekostet hatte, welches
	nach heuligem deutschem Gelde zwei Millionen: und zweihun-
42
	Dic jiingeren Geschlechter blicken mit staunender Ver-
wunderung zu den Bauwerken empor, welche der Thatkraft
und Ausdauer der Vorzeit ihre Entstehung verdanken, zu dem
Schmuck der bildnerischen Werke, mit dem sie umkleidet sind.
Solches Staunen gestallet sich aller Orten zur mehr oder we-
niger phantastischen Sage. Auch die Thiligkeit des Bauens an
sich hat fir den Uneingeweihten so manches Seltsame und
Ueberraschende, dass das Mahrchen des Volkes sie nicht ungern
in seine Kreise mit hineinzieht, Die Betrachtung der Bau-Sage
bietet ein mehrseitiges Interesse, so sehr es freilich gerathen
sein michle, ihr Ergebniss von der strengen baugeschichtli-
chen Forschung geschieden zu halten.

Ich habe bei meinen derartigen Studien begonnen, die Bau-
Sagen zu sammeln und sie, so gut ich es vermochte, in einer
Weise wiederzuerzaihlen, welche ihr eigenthiimliches Wesen und
die Atmosphare, von der sie umgeben sind, einigermaassen le-
bendig hinstellte. Das Deutsche Kunstblalt ist geneigt, seinen
Lesern einige Proben davon vorzufiihren. Die ersten dieser Pro-
hen enthallen dem Stoffe nach ziemlich Bekanntes; doch ist viel-
	leicht schon die darin gegebene Zusammenstellung nicht ganz
	uninteressant: auch КпарЁ sich das Folgende an sie unmiltel-
	раг ап.
Ich habe bei diesen Miltheilungen tibrigens noch einen stillen
	Privatwunsch, den nemlich, dass Diejenigen, die sonst von guten
alten und nicht sonderlich bekannten Bau-Sagen wissen, sich
freundlichst veranlasst sehen méchten, mir den Stoff oder die
Quelle, wo derselbe etwa befindlich, mitzutheilen. Ich wirde
derartige Férdernisse dankbarlichst benutzen. —
	I Von den Pyramiden Aegyptens.
	Am Saum der Sandwitste, auf den felsigen Uferhohen, von
denen der Wanderer weit dber das fruchtbare Nilthal hinblickt,
slchen die Pyramiden. Etliche sind gross, andre klein, etliche
zertriimmert und verwitlert, andre noch wie Alpengipfel auf-
ragend in die blaue Lufl. Drei vor allen sind riesengross, wie
	LY. Jahrgang.