RÜCKBLICK UND AUSBLICK. Der Versuch, für unsere Wohnungs-Einrichtungen
einen neuen Stil zu erfinden, muß heute im wesentlichen als abgetan betrachtet werden. Er hat im ganzen etwa ein Jahrzehnt gedauert und sich in der Haupt
sache auf dem Kontinent abgespielt. Frankreich und Deutschland standen an der Spitze; wenn England bei uns vielfach dafür in Anspruch genommen wird, so liegt darin eine große Verwirrung der Tatsachen. Die künstlerische Reform des englischen Hauses ist von ganz anderen Voraussetzungen ausgegangen als von der Absicht einer neuen Stilerfindung. Ihre Begründer William Morris und sein Kreis suchten das Heil in der Wiederbelebung mittelalterlicher Handwerkskunst und bezeichneten sich selbst als »historische Künstler«. Und die Konsequenzen, welche die modernsten der heutigen englischen Raumkünstler, wie Voysey, aus den Forderungen des modernen Lebens ziehen, gehen über einen Kompromiß des Alten mit der neuen Zeit nicht hinaus: die Grundlagen des heutigen englischen Möbel
stils sind historische; es sind die Grundformen des
englischen Mobiliars aus der klassischen Zeit englischer Möbelkunst: die Sheraton- und Chippendaleformen,
die nur im einzelnen fortgebildet und den technischen, hygienischen und Bequemlichkeits - Ansprüchen der Gegenwart angepaßt worden sind. Dem zugleich praktisch
nüchternen und konservativen Geist des Engländers ist alles zwecklos-absichtliche Neuern unverständlich. Darin liegt eben der Vorzug des englischen Wohnhauses, daß es die einheitliche Anknüpfung an eine nationale Tradition
wieder gefunden hat. — Dagegen hat der Kampf um den neuenStil in Frankreich eine Zeit lang eine um so größere Rolle gespielt. Aus seinem eigentlichen Geburtsland Belgien hat ihn Henry van de Velde nach Paris verpflanzt, wo er 1896 dem Kunsthändler Bing die Einrichtung für
sein Art nouveau entworfen hat. Die künstlerische Tendenz der neuen Formensprache deckte sich in ge
wissem Sinn mit der des Barock und Rokoko. Es ist dieselbe Auflösung der statisch bedingten Geradlinigkeit in willkürlich geschweifte, gebogene und gebrochene Linien, wodurch die konstruktive Form in eine orna
mentale übersetzt wird (auf das eigentliche Ornament verzichtet deshalb van de Velde in seinen Möbeln). Bei den Franzosen (Majorelle, Gaillard, Plumet u. a.) hat sich denn auch der »belgische Stil« mit ihrem wesensverwandten Rokoko vermischt und in dieser Form die Konkurrenz mit dem historischen Kunstge
werbe aufgenommen. Aber in Frankreich hat die neue Bewegung nicht die Kraft in sich getragen, die Unreife ihres ersten Stadiums, an der das Publikum mehr oder minder berechtigten Anstoß nahm, zu überwinden. Deshalb ist sie im Kampf mit den Mächten der Be
harrung unterlegen. Schon seit der Weltausstellung von 1900 hat sie Schritt für Schritt des gewonnenen Bodens wieder verloren. Heute sind die Franzosen endgiltig zur Reproduktion ihres historischen Louis Quinze, Louis Seize, Empire u. s. w. zurückgekehrt.
Auch in Deutschland wäre ihr Schicksal zweifelhaft
geworden, wenn hier nicht die klärenden Faktoren