ARCHITEKTEN A. KARST UND H. FANGHÄNEL — CASSEL.Parkansicht des Kurhotels.
mit wenigen Ausnahmen, die höchsten Kreise der Gesellschaft geben, wirkt alles eher als fördernd auf die fortschrittliche Entwicklung unserer künstlerischen Kultur. Aber das ist auch in England nicht anders. Auch hier hält die Aristokratie und Haute finance nach dem Vorbild des Hofs an der französisierenden Stilimitation fest. Die Träger der neuen Bewegung sind die frischen Elemente des Bürgertums. Es ist wie bei uns der gebildete Mittelstand, in dem das Ver
ständnis für die Bedürfnisse der Zeit wieder am frühesten erwacht ist und sich am stärksten in einem einheitlichen künstlerischen Ausdruck seiner Lebensanschauung Geltung verschafft. Aber darin liegt auch die Gewähr, daß die Wurzeln der neuen Bewegung gesund sind und in festem und fruchtbarem Boden ruhen. Aus einem bürgerlichen Zeitalter wie dem unseren kann nur eine künstlerische Kultur von bürgerlichem Charakter hervorgehen. Dem nüchternen, auf Arbeit nicht auf Genuß gestellten Geist des modernen Lebens entspricht eine Kunst, die allen unnützen Spielereien des dekorativen Luxus entsagt. Und eine solche entspricht auch den wirtschaftlichen Bedingungen unserer Zeit: dem Prinzip konsequentester,
restlosester Ausnutzung von Kraft und Material, dem die Vermeidung unnützer Belastung mit totem Kapital überall, auch in der Welt der künstlerischen Formen, höchstes Gesetz ist.
Es ist eine eigene Fügung des Schicksals, daß dieses Schönheitsideal sachlichster Einfachheit — freilich aus anderen wirtschaftlichen Gründen — uns auch die Zeit überliefert hat, mit der die alte auf das Handwerk
und dergl. — Die kulturelle Bedeutung der von England ausgehenden Reform wächst natürlich in dem Maße, in dem sich ihr Einfluß auch im Ausland Geltung verschafft hat. Indem sie gerade in den England stammverwandten Ländern Holland und Deutschland Boden gefaßt hat, tritt der germanische Westen geschlossen an die Stelle,
die Frankreich jahrhundertelang behauptet hat. Die Führerschaft in der künstlerischen Kultur, die es unter seinen Ludwigen errungen hatte, ist damit seinen Händen
entglitten. Ob es sich aus der Impotenz und Passivität seines heutigen, in selbstgefälliger Bewunderung seiner Vergangenheit versunkenen Zustandes wieder einmal aufraffen wird, kann natürlich nur die Zukunft ent
scheiden. Die Gegenwart scheint allerdings auf das Gegenteil zu deuten. Die romanische Welt steht still,
die germanische schreitet vorwärts. Damit scheinen wir auf das jahrzehntelange Experimentieren in alten Stilrekonstruktionen und modernen Stilversuchen wieder auf den Boden einer ruhigen Entwicklung zu gelangen.
Das Resultat ist freilich noch nicht der neue Stil, aber die Aussicht, daß sich in konsequenter Fortbildung der alten Formen auf dieser Grundlage der neue Stil ent
wickeln werde. Vorübergehende Schwankungen brauchen
uns an dieser Zuversicht nicht irre zu machen. Wohl hat die Enttäuschung der ersten überschwänglichen
Erwartungen auch bei uns manchen wieder in die Arme der historischen Kunst zurückgetrieben. Die Architekten klagen, daß mancher reiche Bauherr, der sich vor zehn
Jahren »modern« eingerichtet hat, heute wieder antängt alte Möbel zu kaufen. Auch das Beispiel, das