Titel «Sagesse» -herausgab. An schlichter Innigkeit
stehen sie in der franzésischen Literatur, wo Esprit
und Rhetorik allgemein die Herzensregung uber-
wuchern, einzig da. Der riihrende Ton der Volks-
poésie, der Aufschwung mystischer Frémmigkeit, die
Zerknirschung des reuigen Siinders, die sar.fte Schwer-
muth der Weltverlassenheit, — alles dics klingt er-
greifend in seinen Dichtungen zusammen. Dazwischen
mischt sich der Galgenhumor des Strafgefangenen,
dessen Probe wir der zweiten Sammlung der Verlaine-
	schen Gefangniss-Dichtungen entlehnen:
Allons, fréres, bons vieux voleurs,
	Doux vagabonds,
Filous en fleur,

Mes chers, mes bons,
Fumons philosophiquement
Promenons-nous

Paisiblement:
Rien faire est doux.
	Paul Verlaine +.

Paris, Januar.
	Ein Dichter ist hingeschieden, wie Frankreich
keinen zweiten hat, ein echter Lyriker in diesem
Lande, wo das blaue Bliimlein der Lyrik so sparlich
spriesst. Paul Verlaine ist fiir immer in den Seelen-
frieden eingegangen, nach dem er hienieden vergeblich
rang, da der Sinnenrausch ihn immer wieder iiber-
mannte und gewaltsam niederzwang. Nur zwei Statten
auf Erden gewahrten ihm den Vorgeschmack des ewi-
gen Friedens, den er ersehnte: das Spital und das
Gefangniss. Er war nach unsern Begriffen ein Pech-
	vogel. Selber klagte er iiber den Unstern, der die Welt
	nicht zu ihm, oder ihn nicht zur Welt passen liess.
	Suis-je né trop tét ou tard?
Qu’est-ce que je fais dans le monde?
	Aber ein Strahl der Gottesgnade fiel in das Duster
seines Schicksals und durchgliihte sein Gemiith. Seine
Seelenkimpfe verklarten sich in Poésie. Was er in
Leiden klagte, was er im Sinnengliick jubelte, geht
vom Herzen zum Herzen. Unter allen Lyrikern des
neuzeitigen Frankreichs schlug er den innigsten Ton an.

Paul Verlaine war am 30. Marz 1844 in Metz ge-
boren. Er verlebte eine sonnige Jugend im Eltern-
hause, studirte dann die Rechte in Paris, verheirathete
sich friih aus Liebe und schien, da es ihm an Wohl-
stand nicht fehlte, zu einem biirgerlich regelrechten,
gliicklichen Dasein bestimmt. In Studienjahren dich-
tete er seine «Poémes saturniens», die den Dichter
von Gottes Gnaden noch nicht voraussehen liessen.

Die «Fétes galantes», die etwas spater erschienen,
zeigten ihn als Mitglied der ,parnassischen Gruppe“,
der Poéten, die mit Théodore de Banville, Leconte
de Lisle, Catulle Mendés, Francois Coppée und Sully
Prudhomme vor Allem dic Formvollendung und den
Wohllaut des Verses anstrebten und ihren hauptséch-
lichen Vorganger in Théophile Gautier hatten.

Verlaine war damals schon Meister der Form; die
seelische. Vertiefung sollte ihm erst unter Schmerzen
	kommen.
Mitten in seinem biirgerlichen Gliick und seinen
	ersten dichterischen Erfolgen, iiberkam ihn ein dia-.
	_ЪоНзенег Этпейгаизсв. Dazu war er durch die Com-
mune 1871 politisch compromittirt, fliichtete nach Bel-
gien — und die Folge war: zweijahriges Gefangniss.
	In der stillen Zelle kam er zur Besinnung und
	hielt innere Einkehr. Dort schuf er das Hauptwerk
	seines Lebens, die Gedichte, die er spaiter unter dem
	Verlaine hatte mit seinem bésen Streiche alles
biirgerliche Gkick, auch das Gliick seiner Ehe ver-
spielt. Frau und Kind lebten fortan von ihm getrennt.
Sein Sohn wuchs auf, ohne den Vater zu kennen, dessen
Tod er jetzt erst durch die Zeitungen erfahren hat,
denn keiner der Freunde des Dichters, die an dem
Sterbebette standen, wusste, wo er sich aufhielt.

Eine Zeit der inneren Ruhe genoss Verlaine in
Freiheit noch bei seiner Mutter auf einem Bauern-
hofe in den Ardennen. Dann kam die Armuth: das
Giitchen wurde verkauft. Der Dichter zog mit seiner
Mutter nach Paris, die Mutter starb, und Verlain-
stand allein auf dem Pflaster der Grossstadt, bei Jahren
zwar schon, doch anHerzenseinfalt ein Kind, ein grosses,
herzensgutes und doch ungerathenes Kind.

Mit den Entbehrungen kam die Krankheit. Im
Leben des Poéten waren fortan die Wochen und Monate,
die er im Spital verbrachte, die gliicklichsten. Philo-
sophisch fiigte er sich in sein Schicksal und scherzte
dariiber. Wenn im Sommer die elegante Welt die
	Stadt verliess, pflegte er zu sagen: ,,Nach dem Grand
	Prix kann man wirklich nicht anstandigerweise mehr
in Paris bleiben. Ich trete meine Saison in Broussais
an.** Das Hospital Broussais war sein Lieblingskranken-
haus. Wenn er im Sommer schon seine ,,Saison“
antrat, so pflegte er den Winter erst recht dort zu

verbringen.
Indessen hatten sich seine Werke, die lange nur

im engeren Kreise. literarischer-,Feinschmecker ge-
schatzt worden waren, Bahn zum grossen Publikum
	sebrochen.