JUGEND -
	Мг. 27
	hat die im Leib, Kinder! Macht Euch doch mal ‘ran, wenn
Ihr Courage dazu habt!“

Die Sache war ihm bereits unbehaglich geworden. Се-
legentlich flelen Ausdriicke wie: ,,Das war ein schlechter
Scherz, den ich da gemacht habe“ — oder ,,so weit hitt’
es nicht kommen diirfen.“ ,

Er ging seltener in den Rodensteiner wie gewdéhnlich,
Mathilde wurde von ihm mit ausgesuchter Grobheit behandelt,
alles Griinde, um sie nur noch verriickter zu machen. Wenn
sie jAusgang hatte, so marschirte sie stundenlang vor Hart-
wig’s Fenstern auf und ab. Das verbat er sich, aber es half
nichts.

Eines schénen Abends sitzt der Hans allein in seiner
Bude und bereitet sich etwas fiir die Anatomie vor. Wie
er so an gar nichts Béses denkt, geht die Thiir auf und herein
kommt niemand anders als Mathilde.

ylch bin durchgebrannt“, sagt sie zu ihm, ,,ich muss zu
Dir!” Mich halts nicht mehr!“

Hartwig erhebt sich in seiner ganzen Lange. ,,Teufel“,
donnert er, ,seit wann stehen wir denn auf Du und Du?
Was wollen Sie denn von mir? Raus damit.“

Da wirft sich das Frauenzimmer auf einen Stuhl und
fangt an zu heulen wie ’ne Besessene. Hans sagt ihr: ,Kind,
das kann ich nicht vertragen. Wollen Sie einen Schnaps,
oder Geld, oder was?“

Die Mathilde treibt’s aber immer toller. Schliesslich wirft
sie sich vor ihm auf die Erde und jammert und winselt:
»Dich. gern haben, Dich gern haben.“ Was macht er nun?
Er gibt ihr den freundlichen Rath, sich etwas abzukiihlen
und beférdert sie an die Luft. Echt Hartwig, nicht wahr?

Am “niachsten Tag war sie spurlos verschwunden. Hans
aber findet. einen. Zettel vor, auf dem steht so ungefihr:
yich_ kann an nichts mehr denken als an Dich‘ oder irgend
ein ahniicher Blédsinn.

. Das geht so drei Tage. Der Hartwig ist todtenstill ge-
worden, seine Fauste trigt er zusammengeballt, stundenlang
rennt er am. Neckar auf und ab. Dann treten auf seiner
Stirne die Adern hervor: immer ein Zeichen, dass manjihn
am besten. gewihren lasst. Am vierten Tage treff ich ihn
mit Kassewitz, wie er ‘gerade in die Anatomie gehen will.
Das war auch unser Weg. Am Hofthor kommt uns der
Hubermayer entgegen. Der Hubermayer ist Anatomiediener
und eines der{frivolsten Subjecte, die mir im Leben vorge-
kommen sind. Dem ist’s schon gar nicht mehr wohl, wenn
er mit lebendigen Menschen in Berithrung kommt. Der
Hubermayer also trifft uns, zieht seine Mittze und sagt:
Guten ‘Morgen, meine Herrn. Das Geschift geht. Heute
Nacht haben wir eine frische Sendung bekommen, frisch aus
dem Neckar, meine. Herrn.“

Der Hartwig fahrt zusammen, als ob er mit der Hand
‘unversehens eine Elektricitétsmaschine entladen hitte, ldsst
sich aber weiter nichts anmerken und steigt ganz ruhig die
Treppe hinauf. Im Gesicht war er bleich wie ein Betttuch.
Der Professor war zufallig auf dem Praparirboden und gleich
		an der Thiir halt er uns an. Hans kannte ihn personlich,
der alte Geheimrath mochte ihn gut leiden, und wenn er
etwas fiir ihn thun konnte, so geschah es.

„Ра ist eine ganz frische Leiche fiir Sie,“ wandte er sich
an Hartwig. ,Legen Sie Ihr altes Kehikopfpraparat bei Seite
und machen Sie ein neues.“

Der Angeredete verneigt sich: ,Schén, Herr Geheimrath.‘‘

Die Leiche selbst konnte er nicht sehen, da der Tisch,
auf dem sie lag, von einem Kreise Schaulustiger umgeben
war. Er nimmt sein Messer zur Hand und geht auf den
Tisch zu, hinter dem Professor her.

Der Kreis theilt sich. Die volle Morgensonne liegt auf
der *Leiche.

Es war Mathilde.

Die wunderbaren blonden Haare hatte man nicht abge-
schnitten. Sie hingen itber die Tischkante herunter bis auf
die Erde. Aecht waren sie, und sie glinzten wie Gold in der
Sonne. Und der ganze Kérper in seiner weissen, reinen
Nacktheit, wunderbar gebaut und ausgestreckt wie im tiefen
Schiaf, einen merkwiirdig wehmiithigen Zug um die Lippen —
ich sag’ Ihnen, Doktor, es war kein iibles Bild. Es konnte
einem ganz friedlich dabei zu Muthe werden. Nun aber:
Hartwig kommt heran, erkennt im selben Augenblick das
Madchen, springt mit einem Satze zuriick und steht da wie
versteinert. Das Messer fallt ihm aus der Hand und bleibt
senkrecht im Boden stecken. Seine ganze Gestalt ist er-
schiittert. Nach drei oder vier Sekunden dreht er sich
schliesslich um und stiirzt zum Saal hinaus. Studenten und
der Geheimrath sehen sich einander sprachlos an und kénnen
nicht einmal lachen.

Nachmittags haben wir ihn auf seiner Bude besucht. Da
sass er und starrte in’s Leere und murmelte in einem Stiick
fort: ,die hab’ ich umgebracht, die hab’ ich umgebracht.“ Und
dann packt ihn ein furchtbarer Zorn gegen sich selbst. Er
tobt, wird von Tag zu Tag nervéser. Keinen Fuss will er
mehr in den Praparirboden setzen, weil ein Gespenst fiir ihn
umgeht bei Tag und Nacht, sagt er. Schliesslich haben wir
ihn nach Hause schicken missen. Der Junge ware nur
verriickt geworden.

»Verstehen Sie jetzt den Zusammenhang, bester Doktor?“
fragte Schénpflug, als er zu Ende war.

»Hm, ja, ich verstehe’schon,“ erwiderte der. ,,Und will
er ganz bestimmt umsatteln 2“

ylch glaube schon. Vielleicht ist’s auch das Beste bei
seiner Natur.“

»Was braucht der Junge auch so eine Raubritternatur
zu haben,“ brummte der Doktor.

»Vorbin haben Sie von uns dasselbe verlangt, verehrtester
Herr,“ bemerkte Kassewitz.

„Ма ja, aber mit Einschrankungen, Kinder, mit Ein-
schrankungen. So ganz kénnen wir’s ja doch nicht vertragen,
und wenn heutzutage so zwei halbwilde Urmenschen anein-
ander gerathen, wie der Hans und, die Mathilde, so gibt’s
gewohnlich ein Unglttck. — Bertha, noch einen Krug!“
	(sezeichnet yon A. .‘Schmidhammer
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