Cine neue Geschichtsphilosophie.
	n einer geistvollen, aber unsystematischen Abbandlung aus

dem Jahre 1705 hat Uoltaire den Namen ,Philosopbie der
Geschichte” gepragt und erklart, er wolle Geschichte als Philo-
soph schreiben. immer wieder haben seit dieser Zeit Philo-
sophen versucht, das geschichtlicye Material speculativ zu be:
waltigen, und eine derartige vollstindige Uerarbeitung der
durch die Geschichte tiberlieferten Geschebnisse als eine un-
umgangliche Aufgabe philosopbiscyen Denkens bezeidynet.
Wabrend aber Kant, Sichte und Schelling ihre geschidtsphilo-
sophischen Gedanken nicht zu einem consequenten System
ausgebildet haben, bat Hegel die Philosophie der Geschichte
zu einem wesentlichen und grundlegenden Bestandtheil seines
Systems erhoben. Allein wenn auch Hegel s Zonstruction einen
weiltragenden Einfluss vornehmlic) auf die classische Rich:
tung deutscher Geschidhischreibung und besonders auf Ranke’s
»Weltgeschidjte“ gewonnen hat, so hat sid) doch aud) den
Historikern allmablidy) offenbart, dass eine unbefangene Be-
obadtung der Mannigfaltigkeit geschichilider Erscheinungen
gegen den Versuch, den geschichtlichen Uerlauf in logische
Kategorien einzuschniiren, die scharfste Uerwahrung einlegen
muss. So sann man denn auf der anderen Seite, namentlich
von seiten der franzdsischen und englischen Positivisten (Comte
und Buckle) nidt auf die Eingliederung der Geschichte in ein
philosophisches System, sondern auf newe Methoden, um die
Art und Weise geschichtlichen Erkennens der naturwissenschait-
lichen Forschung nabezubringen. €s galt, die Erscheinungen
geschichtiichen Cebens aus gewissen Aniagen und Stimmungen
ganzer Uslker oder Berufsklassen zu begreifen und Фет:
muthungen iiber die gesetzmassige Gebundenheit der mensd)-
licen Entwicklung aufzustellen, den Gesetzen nac)zugeben,
die man giaubte, in der Genesis der Mensdyheit ebenso gut
wie in dem In- und Aufeinanderwirken der Naturvorginge
entdecken zu konnen, es galt schliesslich, die Geschichte be-
dingungslos der Naturwissenschaft zu unterwerfen.

Eine gewisse Mittelridjtung zwischen der philosophischen
und der naturwissenschaftlichen Auffassung hat meines Dafitr-
haltens Cheodor Lindner, Professor der Geschichte an der Uni-
versitat Halle, eingeschlagen, als er vor kurzem in der Form der
Cinleitung zu einer Weltgeschichte seit der Udikerwanderung
eine ,,Geschichtsphilosophie® bei J. 6. Cotta Nachfolger in Stutt-
gart erscheinen liess. Seine Absicht war nur, seine Auffassung
von der Geschichte zusammenhangend und einheitlid) vor-
zutragen, nicht alle Fragen der Geschic)tsphilosophie vollstandig
zu bebandeln. Aber wenn auch diese Auffassung auf empi-
tischem Wege aus einer beinabe vier Jabrzehnte langen Be-
schaftiqung mit der Geschichte erwadhsen ist, so verzichtet der
Ristoriker von Fach keineswegs auf speculative Bewaltigung
seines Stoffes: er will die Entwicklung auf einfache Grund-
alige zuriickfiibren, die zu allen Zeiten und bei allen беги
nachweisbar sind. Und wiederum, wabrend sich Lindner von
dem modernen naturwissenschaftlichen Denken, das dem Geistes-
leben des 19. Jabrhunderts neue Babnen gewiesen hat, iiberall
stark beeinflusst zeigt, wird er keineswegs zum Doctrinar
naturwissenschaftlicher Anschauungsweise und sucht nie mit
Gewalt zwei Disciplinen zu vereinigen, die ihrem Wesen nach
grundverschieden sind.

Die hauptsdchlichsten G@rundziige der Darstellung LCindner’s
sind die folgenden. Geschichte ist in mensdlicyer Gemeinschaft
Geschebenes. Jeder geschichtliche Uorgang entspringt aus viel-
fachen Ursachen, keine geschichtliche Erscheinung gleicht einer
anderen volistandig. Aber alles geschichtliche Leben wird
durch das Uerbdliniss von Beharrung und Gerdnderung
bestimmt. Die Beharrung ist eine der Schwerkraft abnliche
Macht, aber auch eine fortpflanzende Kraft; auf ihr beruht der
Bestand der Rassen, Nationen und Staaten, obne Sie waren
Religion, Sitte, Recht, Kunst und Wissenschaft unmdglic). Sie
iiberstebt selbst gewaltsame Cingriffe, erhalt aber nicht allein
beredligtes, sondern auc) veraltetes und unbraud)bar gewor-
denes, sie ist eine Kauptursache der Uielseitigkeit der Geschichte.
In einfachen Culturverbaltnissen stdrker als in fortgeschrittenen,
zeigt die Beharrung dod) auc) in der Gegenwart noch, dass
jede Entwicklung langsamer verlauft, als wir wiinschen.
	Der Beharrung tritt die Ueranderung entgegen, deren Ur-
sachen mannigfacher Art sind: der Wechsel der Geschlechter
und der Lebensbedingungen, die Weiterbildung der Gesell-
schaft. Je mehr Uslker mit anderen in Beziebung kommen,
desto mehr werden sie der Beharrung entzogen und Uerande-
rungen unterworfen. Die Fabigkeit der Wesen, ibre Cebens-
thatigkeiten verdnderten Bedingungen anzubequemen, ist An-
passung. Die Ustker haben eine verschiedene Anpassungs-
fabigkeit; diejenigen Usiker aber, die zugleid) eine starke
Anpassungskraft und ein ausreichendes Beharrungsvermigen
besitzen, die also fahig sind, ibr Sein zu bereichern, obne ibr
Grundwesen einzubiissen, sind am meisten zur geschichtlichen
Entwicklung berufen. Weil Ueranderung nirgends ganzlich
febit, so hat auc) der Stillstand seine Solgen: Rilckwarts-
bildung, die jedoch kein Riickfall ist, weil die stetige Ver.
anderiing nie mebr friibere Uerhaltnisse vollkommen wieder-
kebren lasst. In diesem Abschnitt wirft Lindner die Frage
auf, wie weit Darwin s Satz von der natitrlidyen Huslese
historisc) anwendbar sei, und meint, in der ersten Menschen-
geschichte habe die matiitliche Auslese hohe Bedeutung, die
indess mit der Zeit abnehme; sie sei auc) in historischen
Zeiten fiir die Entwicklung der Individuen nicht belangreich,
mehr in der Geschichte ganzer Uslker erkennbar. Auch da frei-
lich reiche der Satz von dem Sieg des Passendsten nicht aus:
	am ebesten nod) konne man sagen, dass in dem Wettkampt
Jor Ideen die machtigste erstarke, ss in dem Wettkampf
	Den Ub Abschnitt beginnt Lindner mit der Sr i
eigentlich das historische Grundprincip, jener Gegensatz mwischen
Beharrung und Uerdnderung, zum Uollzug kommt. Wenn das
Gefiihl des Bediirfnisses ins Bewusstsein tritt und aut Befrie-
digung dringt, so wird es zur Hee, Tdeen sind Gedanken
die auf Erreichung eines bestimmten Ziels gerichtet sind, Thre
ersten Urbeber sind Individuen; ibre weite Uerbreitung ist nur
Indglich, wenn das Bedlirfniss, das die Idee betriedigen will,
allgemein empfunden wird. Als geschichtlich wirksame
Tdeen sind nur diejenigen zu betrachten, die sich aut das
allgemeine Leben und seine Uerbesserung beziehen. Eine
Idee, die um ihrer selbst willen ergriffen wird, ist ein Ideal.
Die Bildung von Ideen ist nach Zeit und Ort verschieden, dic
Neigung zu Ideen entspricht in der Regel der Anpassungs-
fabiqket. Keine Idee kann obne Kampf gegen die Behartung
durchgetiibrt werden, aber der Werth einer Idee hangt nicht
von der Weise ab, mit der sie ins Leben gesetzt wird. Tn
dem Gegensatz der vorwartsringenden und mit anderen Zu-
sammenstossenden Tdeen bewegt sid) die Geschichte, Die Idee
Gebiert selber die Krafte, die sie zerstoren, die siegende Idee
zersetzt selber den Boden, aut dem sie gewachsen ist. Die
Bebarrung nimmt zwar die siegreiche Idee in sic) auf, aber
sie bewabrt auc) andere dltere Ideen, sodass die Idee den
	4weck, der ihr das Leben gab, nidjt vollkommen leisten kann.
Aber jede Idee bringt echtes Gut, das sie in dem Schatze det
Lultur binterlasst, jede bereichert und vertieft das Dasein.
Auch was irtthiimlicy an ihr war, bat seinen Nutzen; denn im
Grunde ist wabrer Fortschritt nur Ueberwindung von Irthiimern.
Zwischen dem Absterben einer alten Tdee und dem Autstieg
einer neuen liegt eine geistig unfruchtbare Uebergangszeit, in
der sic) aber der wirkliche Gewinn niederschligt. Die Tdeen,
die zur Betriedigung eines Bediitfnisses antreiben, werden zu
Ursachen der geschichtlichen Entwicklung; sie entsteben durd)
Einzelwesen, bediirfen aber zu ihrer Durchfiihrung der Vielbeit.

Die Masse, so zeigt Abschnitt IV, ist die Gesammtbeit
der in irgendwelchen Uerbanden jeweilig lebenden Menschen.
Je grdsser eine menschliche Gemeinschatt ist, desto fester halten
ihre Cheile zusammen, desto starker ist ihre Wirkung. Je
starker die Beharrung in einer Gemeinschaft, desto scywerer
fallt auch die Masse ins Gewicht. Aenderungen kénnen nur
dann durcdringen, wenn sie von der Masse aufgenommen
werden. Der Antheil der Masse an der Austiihrung der Ideen
ist kein schaffender, sondern nur ein belfender. Aber Wille
und Chat eines Einzeinen sind meist bedeutungslos, wenn sie
nicht allgemeine Unterstiitzung finden. Die Masse bestebt der
Zabl nach tiberwiegend aus den unteren Klassen, die an Besitz
und geistigem Uermégen den oberen durchschnittlicy nachsteben.
Die Masse kann sich in Europa gegenwartig mehr geltend
madyen, bei niedrigen Ustkern ist sie lediglidy beharrend. Thr
Antheil am geschicytlidyen Leben ist dure) seinen Verlauf bin
kein gleicjmassiger.

Wie aber die Masse nur durch die Tndividuen besteht, so
kann aud) nach dem V. Abschnitt kein Individuum besteben
denn als Massentheil. Aber das Einzelwesen gebt nicht voll
standig in einer Masse auf.

Die Stufen der Abbangigkeit der Individuen von Zeit und
Uerhalinissen sind verschieden: abgesehen von den Eroberern
und Religionsstiftern sind gerade die grossen Staatsmanner
und Reformatoren am meisten gebunden, weil sie mit den
zusammengesetztesten Uerbalinissen zu thun batten. Zu trennen
sind immer Grdsse der Person und Grosse des Erfolgs. Пит
wer mit leizterem begliickt wird, zablt zu den bewegenden
Kraften der Geschichte. Die grossen Manner sind nur Uolizieher
von Uorbereitetem, nidjt Neuschdpfer von Grund aus. Wol ist
jeder Mensch das Product der Umstande; nur gehdren zu den
Umstanden aud) seine individuelle Anlage und vor allem sein
Wille. Die Weise des Uollzugs ist in jedem Falle eigenstes
Werk des Individuums. Die Chat des grossen Mannes hat
immer etwas ECinseitiges, mit seinem Abschluss tritt sein Werk
in die Beharrung und enthdlt in ihr seine Stelle. Der Mehr.
ertrag, den der grosse Mann erzielt hat, fallt zuriick an den
Cigenthiimer des Kapitals, an die Gesammtheit, Obne grosse
Manner wiirde die Geschichte nicht stillstehen; entweder batten
dann mebrere ihre Ideen ausgefiibrt, oder aber die Tdeen
hatten sic) in ihrer Weiterbildung gedndert und zersetzt. ве.
schichtlicje Entwicklung bedarf der Masse wie der Individuen;
Ideen entstehen individual, verbreiten sich collectiv und werden
wieder durch) Individuen ausgetiihrt. Das grosse Einzelwesen
fligt zu Uorstellung und Gefiihl der Masse seinen Willen, und
wie dessen Starke ist, so weit reichen seine Wirkungen.

Die Masse tritt in, der Geschichte hervor, gegliedert und
ausgepragt in den Udlkern und Nationen, Uolk, so sagt
uns Abschnitt V1, ist ein weiterer und natirlicher Begriff, Ration
ein engerer und staatlicher. €s ist sebr fraglic), ob nicht jedes
Genie mebr allgemein mensdhlides als einem Einzelvolk ent-
sptungenes darstellt. Die Bildung der Nationen entspringt der
Beharrung, die sich bei den einzelnen Usikern durch den Ein-
schluss in einen Staat festsetzi, und der geistigen Massen-
vererbung. Das heutige Wesen eines Uolkes ist nicht dasselbe
wie in fritheren Zeiten. Wenn ein Uolk keine Anregung von
aussen empfangt, wenn die Beharrung ilbermassig ist, so ver-
trocknet seine Cultur. So hangt die Grésse eines Uolkes nicht
allein von ihm ab, sondern aud) von seiner Umgebung; die
Grosse des einen beruht mandymal nur auf der Kleinheit der
anderen.

Um die urspriingliden Anlagen der drei grossen Usiker-
Gruppen (Mongolen, Semiten, Indogermanen) nac)zuweisen,
muss nach Abschnitt VIl die Untersuchung von Uerbaltnissen
ausgehen, die allem geschichtlichen Ceben bei allen Обет
innewobnen; solcher Art sind das Verhdltniss zur Bebarrung
und Uerdnderung, zur Anpassung, die Stellungnahme zur Ge-
meinschaft und zur HAussenwelt. Cine eingehendere Unter-
suchung fasst schliesslid) die Unterschiede dahin zusammen:
Der Mongole hat ein sehr geringes Anpassungsvermdgen, der
Semit ein starkes, aber er nimmt ur an, nicht auf, der Indo-
germane ist fiir die Anpassung gemacht, aber verliert sich
nicht in ihr. Der Mongole ist Massenmensd), der Semit ist
es nur, soweit der Zwang reicdht, der Indogermane steht und
falit als Individuum. Der Mongole ist ganz der Mann der
Beharrung, der Semit hat sie etwas weniger, der Indogermane
vereinigt sie mit der Ueranderung. .

Der Vill. Abschnitt betasst sic) mit den Lebensbethati-
qungen, ein Wort, das Lindner der frither gebrauchlicen
Bezerchnung ,Factoren des geschichtlichen Lebens“ vorzieht;
dieser Abschnitt soll priifen, in welchem Uerhaltniss die ein-
zelnen Lebensbethatigungen zur Beharrung und Uerdnderung
stehen. Die materiellen Ursachen sind treibende Krafte, aber
erst inte Umsetzung ins Geistige bestimmt den Grad ibrer
Wirkung, erst dadurch wirken sie, dass sie Bediirinisse und
durch sie auf deren Befriedigung gerichtete Ideen erwecken,
und erst die Tdeen werden massgebend. €benso wenig wie
die Wirthschaft, beherrscht der Staat absolut die Entwicklung,
aber er ist dod) eine machtige Ursache der Uerdnderung, noch
vielseitiger und bestindiger als jene. Die Religionen sind
Massenerscheinungen, aber ihre Stiftung und Ausbildung er-
folgte durch Individuen; sie haben sich stets den wirthschatt-
lichen Uerhaltnissen fiigen miissen. Die wichtigsten Lebens-
thatigkeiten, mit denen sie in Wechselwirkung stehen, sind die
staatlichen und geistigen; sie sind beweglid) und veranderd,
sobald sie neu entstanden, in gewohnlichem Bestand dagegen
vorwiegend Beharrungen. Die Sitte ist ohne weiteres in das
Gebiet der geistigen Massenvererbungen, also in das der Be-
harrung zu stellen, das Recht ist bebarrender Natur, hat aber
seit seer bestindig zunebmenden Uerfeinerung an Uerinde-
rungskraft zugenommen, die Literatur ist ein altmablich heran-
gewachsenes Mittel der Uerinderung,; die Literatur begleitet
und beschleunigt die Uerdnderung, sie verleiht den aufkommen-
den Bediirfnissen und den auf ibre Befriedigung gerichteten
Tdeen Ausdruck und Form. Alle diese einzelnen Bethatigungen
bedingen sic) gegenseitig; jede Ueranderung in der einen ver.
anlasst solche in einer anderen. Der Grad der Beharrung ist
kein gleichmassiger; die starkste haben Religion, Sprache,
Sitte, Recht, die schwdchste die Wirthschaft und die geistigen
Chatigkeiten. Keine der Bethaligungen ist ftiy sich ein
dauernder Factor der Geschichte; Factoren werden sie erst,
Wein sie, in Bewegung gesetzt, weiter bewegen. In dem
Staat sind Individuen von grosser Bedeutung, aber ihre Wirkung
	muss in die Gemeinscaft eingreifen. Die Wirthsdaft kann
das Individuum verhaltnissmassig leicht fiir sich andern, aber
etwas Grosses kommt nur bei dem Antheil der Masse zu
Stande. Das geistige Leben ist ganz individuell, nur dass es
die Masse nicht entbebren kann.

Der IX. Abschnitt wendet sich zu der angeblichen Gesetz-
massigkeit des geschichtlichen Ucrlaufs. Der Annahme
eines regelmassigen Uerlaufs steht der Zufall im Феде, d. b.
ein Gescheben, das nicht nothwendig in dieser Weise und zu
dieser Zeit eintreten musste. Der Zufall ist aus der Geschichte
nicht wegzustreichen, aber er vermag die regelmassige Ent:
wicklung wol zu stéren, nicht ganzlidy aufzuheben. Wol aber
ware sie unméglich, wenn die Einzelnen ibr Bandeln ganz
nach eigenem Ermessen einrichteten. Mag auch der freie Wille
theoretisc) zu leugnen sein, praktisch wird man von ihm nicht
absehen konnen. Anderseits lasst sid) die ausalitat der
Vorgdnge wol zugeben, doch nie in klarer Form nachweisen.
Cindner bemerkt dann gegen die Eintheilung der Geschichte in
Culturzeitalter, die Lamprecht aus der Gausalitat folgert, jede
Periodentrennung zerteisse das Bild historischen Lebens ;
gewiss habe jede Zeit einen eigenen Lharakter, aber diese
Gleichmassigkeit sei stets eine bedingte. Eine Zeit, die nad)
einer Seite hin grosses leiste, schaffe nidt nach allen Seiten
tiidhtiges; es sei nicht richtig, aus dem Uebergang von der
Gebundenheit zum Individualismus ein allgemein bistoriscdes
Princip zu machen (wie Freiheit, kennt jede Zeit Zwang),
namentlicdy aber unzulassig, den Individualismus als besonderen
Eniwiddlungszustand zu erklaren, der erst mit der Zeit und
unter bestimmten Uerhaltnissen eintritt. Der Individualist ist
kein Gegner der Gemeinschaft, aber er will eine gleichgesinnte
haben (,Sonderlinge madjen nicht Geschichte“), der Individua-
lismus begebrt Erhaltung, nie Ueranderung, neigt darum zur
Anpassung und wird so eine Rauptursade zur Differenzirung.
Die Masse setzt sid) zwar aus Einzelnen zusammen, aber der
Einzelne besteht geschicytlic) nur als Massentheil. 6$ erscheint
nach allem nicht méglid, aus einer bestimmten Fbfolge von
Perioden eine Gesetzmassigkeit des historischen Uerlaufs zu
erweisen.

Der letzte, X. Abschnitt beschaftigt sidy mit den Ursachen
und der Weise der Entwicklung. Das Doppelverbiltniss,
in dem die Menschen leben, das zur Natur und das zueinander,
stellt alle Geschichte unter zweierlei Bedingungen: die obne
Zuthun des Menschen von der Natur gesetzien und die von
Menschen geschaffenen, Der Mensdy ist ше Berr der Natur
geworden, er konnte sie stets nur zur biilfreidyen Sreundin
gewinnen, aber als geistiges und geselliges Wesen setzt er
Sich selbst nod) andere Lebensbedingungen; freilid) keine der
natiirlichen und menschlidyen Entwicklungsbedingungen ist ohne
die andere denkbar. Einen Sortschritt der Menschheit will
Lindner nur fiir einen beschrinkten Kreis anerkennen: die
Gesellschaft ist besser geworden; nicht $0 giinstig scheint es
mit dem sittlichen Uerhalten des €inzelnen хи steben. So
vermag man innerhalb des Gebiets der vom Menschen gesetzten
Bedingungen keine Gesetzmassigkeit, aber eine Regelmassigkeit
zu erkennen, die freilid) nicht in einer gesetzmassigen Reihen-
folge von Culturzeitaltern, sondern nur in bestandig witksamen
Kratten zu finden ist. Natur, geschidytliche Bedingungen und
Bediitfniss sind die drei Ursachen der menschlicyen Entwicklung.
Da jedes Bediirfniss vorbandenen Uerhaltnissen entspringt, so
ergibt sich derselbe Zusammenhang, der durch die Bebarrung
gegeben ist, und die Untersuchung kebrt zum HAusgang zuriick:
Geschichte ist das Uerbaltniss von Bebharrung und Veranderung.
Dieses ist iiberall verschieden, und darum ist die Hauptaufgabe
der Geschidyte, den Griinden der Ueranderung nad)zuspiiren,
Das eigentliche Problem bleibt: die Entstehung der Verschieden-
heit bei gleichen Ursachen.  

Es ist heutzutage ein hohes Uerdienst, ein Bucy zu schreiben,
das zum Denken anregt. Diemand wird bestreiten, dass die
Geschicytsphilosophie Lindner’s zum Denken anregt, wenn der
Ceser aud) nicht allem und jedem seiner Ergebnisse zuzustimmen
braucht. Nur zweierlei will ic) hervorheben. Zundchst médyte
id) die Uerinderung hober einschatzen als die Bebarrung. Чоп
Beharrung sprechen wir immer nur im Uergleich. Ein Stein
ist im Zustand der Rube, heisst nur: er verandert seine Lage
im Uerhdliniss zu anderen Rétpem nicht. 65 gibt keine absolute,
sonderm nur relative Rube. Der Stein, den man auf den
Rasen legt, ilbt auch ohne weiteres Ueranderungen aus: das
Gras wird an der Stelle hell, weil der Stein die Wirkung des
ИФ verhindert. Wenn er aber diese Ueranderungen ausiibt,
dann kann der Stein nicht im Zustand absoluter Rube sein.
So schliesst eigentlich die Veranderung die Beharrung schon
aus, oder aber, man kann wol nur von einer telativen Be-
harrung sprechen, Weiterbin aber diirfte man aud) nad
meiner Meinung vielleicht den Zufall anders beurtheilen als
Lindner. Wir reden zumeist nur dann von Zufall, wenn wit
nicht alle Ursachen eines Ereignisses kennen, Beispielsweise
bei einer Erfindung wie der des Schiesspulvers, wo jemand etwas
erfindet, was er nicht gesucht hat, sollte man sagen: die
Erfindung war vorbereitet (ohne Absicht des Ausfiibrenden
freilic)), der €rfinder erfiillte alle Bedingungen, die noth-
wendigerweise die Erfindung hervorrufen mussten. Crotz alle-
dem aber michte id) noch energischer als Lindner die gtund-
sdtzlide Uerschiedenheit der beiden Gebiete Geschichte und
Naturwissenschaft betonen. Die letztere zeigt, wie sid) die:
selben Erscheinungen unter gleichen Bedingungen wiederholen,
und das Problem det Geschichte lautet nad Lindner dod)
gerade: die Entstehung der Uerschiedenheit bei gleicyen Ursachen.
»Die Gestime wandeln ihre gemessenen Babnen, Menschen
und Udtker kénnen aber itre gehen und bei verschiedenen
Mdglichkeiten sich falsch entscheiden , hat Ernst Curtius einmal

heh g о ПА а че а
		Daturgesetz driickt stets ein Miisser
	С FP MM НЯ OTT

ein Sollen aus. Und doch wird es immer aufs neue den
Forscher locken, den Gesetzen nachzuspiiren, nad) denen
Ustker werden und vergehen, und zu erkennen, wie der Mensch
sich von den Gesetzen der natiirlichen Gebundenheit zu be-
freien sucht, ohne je ganz von ibnen loszukommen.

So Werden denn hoffentlicy alle kleinen Widerspriiche aud
nur dazu beitragen, Cindner zu neuem Schaffen zu ermuntern
und namentlich durdy Vollendung seiner Weltgeschichte zu be-
Wweisen, dass seiner Geschichisphilosophie seine Geschidytspraxis
enispricht. Jedenfalls miissen alle, die seine Geschichtsphilo-
Sophie wirklich durcharbeiten, mit hohem Respect zu ihrem
Autor emporblicken, der uns iiber alle Fragen, die aus der
Geschichte aufsteigen, ungemein viel zu sagen bat mit diesem
Werk einer teichen und reifen Geschichts-, Lebens- und Welt:
anschauung, €r hat damit das Ziel erreicht, das der Altmeister
der Geschichtswissenschaft, Leopold v. Ranke, dieser gesteckt
hat, ,dass sie sid) von der Erforschung und Betrachtung des
Einzelnen auf ihrem eigenen еде zu einer allgemeinen An-
УФЕ der Begebenbeiten, zur Erkenniniss ibres objectiv vor:
bandenen Zusammenbanas erbebe*. .
	Cheo Sommertad.