Cine neue Geschichtsphilosophie. n einer geistvollen, aber unsystematischen Abbandlung aus dem Jahre 1705 hat Uoltaire den Namen ,Philosopbie der Geschichte” gepragt und erklart, er wolle Geschichte als Philo- soph schreiben. immer wieder haben seit dieser Zeit Philo- sophen versucht, das geschichtlicye Material speculativ zu be: waltigen, und eine derartige vollstindige Uerarbeitung der durch die Geschichte tiberlieferten Geschebnisse als eine un- umgangliche Aufgabe philosopbiscyen Denkens bezeidynet. Wabrend aber Kant, Sichte und Schelling ihre geschidtsphilo- sophischen Gedanken nicht zu einem consequenten System ausgebildet haben, bat Hegel die Philosophie der Geschichte zu einem wesentlichen und grundlegenden Bestandtheil seines Systems erhoben. Allein wenn auch Hegel s Zonstruction einen weiltragenden Einfluss vornehmlic) auf die classische Rich: tung deutscher Geschidhischreibung und besonders auf Ranke’s »Weltgeschidjte“ gewonnen hat, so hat sid) doch aud) den Historikern allmablidy) offenbart, dass eine unbefangene Be- obadtung der Mannigfaltigkeit geschichilider Erscheinungen gegen den Versuch, den geschichtlichen Uerlauf in logische Kategorien einzuschniiren, die scharfste Uerwahrung einlegen muss. So sann man denn auf der anderen Seite, namentlich von seiten der franzdsischen und englischen Positivisten (Comte und Buckle) nidt auf die Eingliederung der Geschichte in ein philosophisches System, sondern auf newe Methoden, um die Art und Weise geschichtlichen Erkennens der naturwissenschait- lichen Forschung nabezubringen. €s galt, die Erscheinungen geschichtiichen Cebens aus gewissen Aniagen und Stimmungen ganzer Uslker oder Berufsklassen zu begreifen und Фет: muthungen iiber die gesetzmassige Gebundenheit der mensd)- licen Entwicklung aufzustellen, den Gesetzen nac)zugeben, die man giaubte, in der Genesis der Mensdyheit ebenso gut wie in dem In- und Aufeinanderwirken der Naturvorginge entdecken zu konnen, es galt schliesslich, die Geschichte be- dingungslos der Naturwissenschaft zu unterwerfen. Eine gewisse Mittelridjtung zwischen der philosophischen und der naturwissenschaftlichen Auffassung hat meines Dafitr- haltens Cheodor Lindner, Professor der Geschichte an der Uni- versitat Halle, eingeschlagen, als er vor kurzem in der Form der Cinleitung zu einer Weltgeschichte seit der Udikerwanderung eine ,,Geschichtsphilosophie® bei J. 6. Cotta Nachfolger in Stutt- gart erscheinen liess. Seine Absicht war nur, seine Auffassung von der Geschichte zusammenhangend und einheitlid) vor- zutragen, nicht alle Fragen der Geschic)tsphilosophie vollstandig zu bebandeln. Aber wenn auch diese Auffassung auf empi- tischem Wege aus einer beinabe vier Jabrzehnte langen Be- schaftiqung mit der Geschichte erwadhsen ist, so verzichtet der Ristoriker von Fach keineswegs auf speculative Bewaltigung seines Stoffes: er will die Entwicklung auf einfache Grund- alige zuriickfiibren, die zu allen Zeiten und bei allen беги nachweisbar sind. Und wiederum, wabrend sich Lindner von dem modernen naturwissenschaftlichen Denken, das dem Geistes- leben des 19. Jabrhunderts neue Babnen gewiesen hat, iiberall stark beeinflusst zeigt, wird er keineswegs zum Doctrinar naturwissenschaftlicher Anschauungsweise und sucht nie mit Gewalt zwei Disciplinen zu vereinigen, die ihrem Wesen nach grundverschieden sind. Die hauptsdchlichsten G@rundziige der Darstellung LCindner’s sind die folgenden. Geschichte ist in mensdlicyer Gemeinschaft Geschebenes. Jeder geschichtliche Uorgang entspringt aus viel- fachen Ursachen, keine geschichtliche Erscheinung gleicht einer anderen volistandig. Aber alles geschichtliche Leben wird durch das Uerbdliniss von Beharrung und Gerdnderung bestimmt. Die Beharrung ist eine der Schwerkraft abnliche Macht, aber auch eine fortpflanzende Kraft; auf ihr beruht der Bestand der Rassen, Nationen und Staaten, obne Sie waren Religion, Sitte, Recht, Kunst und Wissenschaft unmdglic). Sie iiberstebt selbst gewaltsame Cingriffe, erhalt aber nicht allein beredligtes, sondern auc) veraltetes und unbraud)bar gewor- denes, sie ist eine Kauptursache der Uielseitigkeit der Geschichte. In einfachen Culturverbaltnissen stdrker als in fortgeschrittenen, zeigt die Beharrung dod) auc) in der Gegenwart noch, dass jede Entwicklung langsamer verlauft, als wir wiinschen. Der Beharrung tritt die Ueranderung entgegen, deren Ur- sachen mannigfacher Art sind: der Wechsel der Geschlechter und der Lebensbedingungen, die Weiterbildung der Gesell- schaft. Je mehr Uslker mit anderen in Beziebung kommen, desto mehr werden sie der Beharrung entzogen und Uerande- rungen unterworfen. Die Fabigkeit der Wesen, ibre Cebens- thatigkeiten verdnderten Bedingungen anzubequemen, ist An- passung. Die Ustker haben eine verschiedene Anpassungs- fabigkeit; diejenigen Usiker aber, die zugleid) eine starke Anpassungskraft und ein ausreichendes Beharrungsvermigen besitzen, die also fahig sind, ibr Sein zu bereichern, obne ibr Grundwesen einzubiissen, sind am meisten zur geschichtlichen Entwicklung berufen. Weil Ueranderung nirgends ganzlich febit, so hat auc) der Stillstand seine Solgen: Rilckwarts- bildung, die jedoch kein Riickfall ist, weil die stetige Ver. anderiing nie mebr friibere Uerhaltnisse vollkommen wieder- kebren lasst. In diesem Abschnitt wirft Lindner die Frage auf, wie weit Darwin s Satz von der natitrlidyen Huslese historisc) anwendbar sei, und meint, in der ersten Menschen- geschichte habe die matiitliche Auslese hohe Bedeutung, die indess mit der Zeit abnehme; sie sei auc) in historischen Zeiten fiir die Entwicklung der Individuen nicht belangreich, mehr in der Geschichte ganzer Uslker erkennbar. Auch da frei- lich reiche der Satz von dem Sieg des Passendsten nicht aus: am ebesten nod) konne man sagen, dass in dem Wettkampt Jor Ideen die machtigste erstarke, ss in dem Wettkampf Den Ub Abschnitt beginnt Lindner mit der Sr i eigentlich das historische Grundprincip, jener Gegensatz mwischen Beharrung und Uerdnderung, zum Uollzug kommt. Wenn das Gefiihl des Bediirfnisses ins Bewusstsein tritt und aut Befrie- digung dringt, so wird es zur Hee, Tdeen sind Gedanken die auf Erreichung eines bestimmten Ziels gerichtet sind, Thre ersten Urbeber sind Individuen; ibre weite Uerbreitung ist nur Indglich, wenn das Bedlirfniss, das die Idee betriedigen will, allgemein empfunden wird. Als geschichtlich wirksame Tdeen sind nur diejenigen zu betrachten, die sich aut das allgemeine Leben und seine Uerbesserung beziehen. Eine Idee, die um ihrer selbst willen ergriffen wird, ist ein Ideal. Die Bildung von Ideen ist nach Zeit und Ort verschieden, dic Neigung zu Ideen entspricht in der Regel der Anpassungs- fabiqket. Keine Idee kann obne Kampf gegen die Behartung durchgetiibrt werden, aber der Werth einer Idee hangt nicht von der Weise ab, mit der sie ins Leben gesetzt wird. Tn dem Gegensatz der vorwartsringenden und mit anderen Zu- sammenstossenden Tdeen bewegt sid) die Geschichte, Die Idee Gebiert selber die Krafte, die sie zerstoren, die siegende Idee zersetzt selber den Boden, aut dem sie gewachsen ist. Die Bebarrung nimmt zwar die siegreiche Idee in sic) auf, aber sie bewabrt auc) andere dltere Ideen, sodass die Idee den 4weck, der ihr das Leben gab, nidjt vollkommen leisten kann. Aber jede Idee bringt echtes Gut, das sie in dem Schatze det Lultur binterlasst, jede bereichert und vertieft das Dasein. Auch was irtthiimlicy an ihr war, bat seinen Nutzen; denn im Grunde ist wabrer Fortschritt nur Ueberwindung von Irthiimern. Zwischen dem Absterben einer alten Tdee und dem Autstieg einer neuen liegt eine geistig unfruchtbare Uebergangszeit, in der sic) aber der wirkliche Gewinn niederschligt. Die Tdeen, die zur Betriedigung eines Bediitfnisses antreiben, werden zu Ursachen der geschichtlichen Entwicklung; sie entsteben durd) Einzelwesen, bediirfen aber zu ihrer Durchfiihrung der Vielbeit. Die Masse, so zeigt Abschnitt IV, ist die Gesammtbeit der in irgendwelchen Uerbanden jeweilig lebenden Menschen. Je grdsser eine menschliche Gemeinschatt ist, desto fester halten ihre Cheile zusammen, desto starker ist ihre Wirkung. Je starker die Beharrung in einer Gemeinschaft, desto scywerer fallt auch die Masse ins Gewicht. Aenderungen kénnen nur dann durcdringen, wenn sie von der Masse aufgenommen werden. Der Antheil der Masse an der Austiihrung der Ideen ist kein schaffender, sondern nur ein belfender. Aber Wille und Chat eines Einzeinen sind meist bedeutungslos, wenn sie nicht allgemeine Unterstiitzung finden. Die Masse bestebt der Zabl nach tiberwiegend aus den unteren Klassen, die an Besitz und geistigem Uermégen den oberen durchschnittlicy nachsteben. Die Masse kann sich in Europa gegenwartig mehr geltend madyen, bei niedrigen Ustkern ist sie lediglidy beharrend. Thr Antheil am geschicytlidyen Leben ist dure) seinen Verlauf bin kein gleicjmassiger. Wie aber die Masse nur durch die Tndividuen besteht, so kann aud) nach dem V. Abschnitt kein Individuum besteben denn als Massentheil. Aber das Einzelwesen gebt nicht voll standig in einer Masse auf. Die Stufen der Abbangigkeit der Individuen von Zeit und Uerhalinissen sind verschieden: abgesehen von den Eroberern und Religionsstiftern sind gerade die grossen Staatsmanner und Reformatoren am meisten gebunden, weil sie mit den zusammengesetztesten Uerbalinissen zu thun batten. Zu trennen sind immer Grdsse der Person und Grosse des Erfolgs. Пит wer mit leizterem begliickt wird, zablt zu den bewegenden Kraften der Geschichte. Die grossen Manner sind nur Uolizieher von Uorbereitetem, nidjt Neuschdpfer von Grund aus. Wol ist jeder Mensch das Product der Umstande; nur gehdren zu den Umstanden aud) seine individuelle Anlage und vor allem sein Wille. Die Weise des Uollzugs ist in jedem Falle eigenstes Werk des Individuums. Die Chat des grossen Mannes hat immer etwas ECinseitiges, mit seinem Abschluss tritt sein Werk in die Beharrung und enthdlt in ihr seine Stelle. Der Mehr. ertrag, den der grosse Mann erzielt hat, fallt zuriick an den Cigenthiimer des Kapitals, an die Gesammtheit, Obne grosse Manner wiirde die Geschichte nicht stillstehen; entweder batten dann mebrere ihre Ideen ausgefiibrt, oder aber die Tdeen hatten sic) in ihrer Weiterbildung gedndert und zersetzt. ве. schichtlicje Entwicklung bedarf der Masse wie der Individuen; Ideen entstehen individual, verbreiten sich collectiv und werden wieder durch) Individuen ausgetiihrt. Das grosse Einzelwesen fligt zu Uorstellung und Gefiihl der Masse seinen Willen, und wie dessen Starke ist, so weit reichen seine Wirkungen. Die Masse tritt in, der Geschichte hervor, gegliedert und ausgepragt in den Udlkern und Nationen, Uolk, so sagt uns Abschnitt V1, ist ein weiterer und natirlicher Begriff, Ration ein engerer und staatlicher. €s ist sebr fraglic), ob nicht jedes Genie mebr allgemein mensdhlides als einem Einzelvolk ent- sptungenes darstellt. Die Bildung der Nationen entspringt der Beharrung, die sich bei den einzelnen Usikern durch den Ein- schluss in einen Staat festsetzi, und der geistigen Massen- vererbung. Das heutige Wesen eines Uolkes ist nicht dasselbe wie in fritheren Zeiten. Wenn ein Uolk keine Anregung von aussen empfangt, wenn die Beharrung ilbermassig ist, so ver- trocknet seine Cultur. So hangt die Grésse eines Uolkes nicht allein von ihm ab, sondern aud) von seiner Umgebung; die Grosse des einen beruht mandymal nur auf der Kleinheit der anderen. Um die urspriingliden Anlagen der drei grossen Usiker- Gruppen (Mongolen, Semiten, Indogermanen) nac)zuweisen, muss nach Abschnitt VIl die Untersuchung von Uerbaltnissen ausgehen, die allem geschichtlichen Ceben bei allen Обет innewobnen; solcher Art sind das Verhdltniss zur Bebarrung und Uerdnderung, zur Anpassung, die Stellungnahme zur Ge- meinschaft und zur HAussenwelt. Cine eingehendere Unter- suchung fasst schliesslid) die Unterschiede dahin zusammen: Der Mongole hat ein sehr geringes Anpassungsvermdgen, der Semit ein starkes, aber er nimmt ur an, nicht auf, der Indo- germane ist fiir die Anpassung gemacht, aber verliert sich nicht in ihr. Der Mongole ist Massenmensd), der Semit ist es nur, soweit der Zwang reicdht, der Indogermane steht und falit als Individuum. Der Mongole ist ganz der Mann der Beharrung, der Semit hat sie etwas weniger, der Indogermane vereinigt sie mit der Ueranderung. . Der Vill. Abschnitt betasst sic) mit den Lebensbethati- qungen, ein Wort, das Lindner der frither gebrauchlicen Bezerchnung ,Factoren des geschichtlichen Lebens“ vorzieht; dieser Abschnitt soll priifen, in welchem Uerhaltniss die ein- zelnen Lebensbethatigungen zur Beharrung und Uerdnderung stehen. Die materiellen Ursachen sind treibende Krafte, aber erst inte Umsetzung ins Geistige bestimmt den Grad ibrer Wirkung, erst dadurch wirken sie, dass sie Bediirinisse und durch sie auf deren Befriedigung gerichtete Ideen erwecken, und erst die Tdeen werden massgebend. €benso wenig wie die Wirthschaft, beherrscht der Staat absolut die Entwicklung, aber er ist dod) eine machtige Ursache der Uerdnderung, noch vielseitiger und bestindiger als jene. Die Religionen sind Massenerscheinungen, aber ihre Stiftung und Ausbildung er- folgte durch Individuen; sie haben sich stets den wirthschatt- lichen Uerhaltnissen fiigen miissen. Die wichtigsten Lebens- thatigkeiten, mit denen sie in Wechselwirkung stehen, sind die staatlichen und geistigen; sie sind beweglid) und veranderd, sobald sie neu entstanden, in gewohnlichem Bestand dagegen vorwiegend Beharrungen. Die Sitte ist ohne weiteres in das Gebiet der geistigen Massenvererbungen, also in das der Be- harrung zu stellen, das Recht ist bebarrender Natur, hat aber seit seer bestindig zunebmenden Uerfeinerung an Uerinde- rungskraft zugenommen, die Literatur ist ein altmablich heran- gewachsenes Mittel der Uerinderung,; die Literatur begleitet und beschleunigt die Uerdnderung, sie verleiht den aufkommen- den Bediirfnissen und den auf ibre Befriedigung gerichteten Tdeen Ausdruck und Form. Alle diese einzelnen Bethatigungen bedingen sic) gegenseitig; jede Ueranderung in der einen ver. anlasst solche in einer anderen. Der Grad der Beharrung ist kein gleichmassiger; die starkste haben Religion, Sprache, Sitte, Recht, die schwdchste die Wirthschaft und die geistigen Chatigkeiten. Keine der Bethaligungen ist ftiy sich ein dauernder Factor der Geschichte; Factoren werden sie erst, Wein sie, in Bewegung gesetzt, weiter bewegen. In dem Staat sind Individuen von grosser Bedeutung, aber ihre Wirkung muss in die Gemeinscaft eingreifen. Die Wirthsdaft kann das Individuum verhaltnissmassig leicht fiir sich andern, aber etwas Grosses kommt nur bei dem Antheil der Masse zu Stande. Das geistige Leben ist ganz individuell, nur dass es die Masse nicht entbebren kann. Der IX. Abschnitt wendet sich zu der angeblichen Gesetz- massigkeit des geschichtlichen Ucrlaufs. Der Annahme eines regelmassigen Uerlaufs steht der Zufall im Феде, d. b. ein Gescheben, das nicht nothwendig in dieser Weise und zu dieser Zeit eintreten musste. Der Zufall ist aus der Geschichte nicht wegzustreichen, aber er vermag die regelmassige Ent: wicklung wol zu stéren, nicht ganzlidy aufzuheben. Wol aber ware sie unméglich, wenn die Einzelnen ibr Bandeln ganz nach eigenem Ermessen einrichteten. Mag auch der freie Wille theoretisc) zu leugnen sein, praktisch wird man von ihm nicht absehen konnen. Anderseits lasst sid) die ausalitat der Vorgdnge wol zugeben, doch nie in klarer Form nachweisen. Cindner bemerkt dann gegen die Eintheilung der Geschichte in Culturzeitalter, die Lamprecht aus der Gausalitat folgert, jede Periodentrennung zerteisse das Bild historischen Lebens ; gewiss habe jede Zeit einen eigenen Lharakter, aber diese Gleichmassigkeit sei stets eine bedingte. Eine Zeit, die nad) einer Seite hin grosses leiste, schaffe nidt nach allen Seiten tiidhtiges; es sei nicht richtig, aus dem Uebergang von der Gebundenheit zum Individualismus ein allgemein bistoriscdes Princip zu machen (wie Freiheit, kennt jede Zeit Zwang), namentlicdy aber unzulassig, den Individualismus als besonderen Eniwiddlungszustand zu erklaren, der erst mit der Zeit und unter bestimmten Uerhaltnissen eintritt. Der Individualist ist kein Gegner der Gemeinschaft, aber er will eine gleichgesinnte haben (,Sonderlinge madjen nicht Geschichte“), der Individua- lismus begebrt Erhaltung, nie Ueranderung, neigt darum zur Anpassung und wird so eine Rauptursade zur Differenzirung. Die Masse setzt sid) zwar aus Einzelnen zusammen, aber der Einzelne besteht geschicytlic) nur als Massentheil. 6$ erscheint nach allem nicht méglid, aus einer bestimmten Fbfolge von Perioden eine Gesetzmassigkeit des historischen Uerlaufs zu erweisen. Der letzte, X. Abschnitt beschaftigt sidy mit den Ursachen und der Weise der Entwicklung. Das Doppelverbiltniss, in dem die Menschen leben, das zur Natur und das zueinander, stellt alle Geschichte unter zweierlei Bedingungen: die obne Zuthun des Menschen von der Natur gesetzien und die von Menschen geschaffenen, Der Mensdy ist ше Berr der Natur geworden, er konnte sie stets nur zur biilfreidyen Sreundin gewinnen, aber als geistiges und geselliges Wesen setzt er Sich selbst nod) andere Lebensbedingungen; freilid) keine der natiirlichen und menschlidyen Entwicklungsbedingungen ist ohne die andere denkbar. Einen Sortschritt der Menschheit will Lindner nur fiir einen beschrinkten Kreis anerkennen: die Gesellschaft ist besser geworden; nicht $0 giinstig scheint es mit dem sittlichen Uerhalten des €inzelnen хи steben. So vermag man innerhalb des Gebiets der vom Menschen gesetzten Bedingungen keine Gesetzmassigkeit, aber eine Regelmassigkeit zu erkennen, die freilid) nicht in einer gesetzmassigen Reihen- folge von Culturzeitaltern, sondern nur in bestandig witksamen Kratten zu finden ist. Natur, geschidytliche Bedingungen und Bediitfniss sind die drei Ursachen der menschlicyen Entwicklung. Da jedes Bediirfniss vorbandenen Uerhaltnissen entspringt, so ergibt sich derselbe Zusammenhang, der durch die Bebarrung gegeben ist, und die Untersuchung kebrt zum HAusgang zuriick: Geschichte ist das Uerbaltniss von Bebharrung und Veranderung. Dieses ist iiberall verschieden, und darum ist die Hauptaufgabe der Geschidyte, den Griinden der Ueranderung nad)zuspiiren, Das eigentliche Problem bleibt: die Entstehung der Verschieden- heit bei gleichen Ursachen. Es ist heutzutage ein hohes Uerdienst, ein Bucy zu schreiben, das zum Denken anregt. Diemand wird bestreiten, dass die Geschicytsphilosophie Lindner’s zum Denken anregt, wenn der Ceser aud) nicht allem und jedem seiner Ergebnisse zuzustimmen braucht. Nur zweierlei will ic) hervorheben. Zundchst médyte id) die Uerinderung hober einschatzen als die Bebarrung. Чоп Beharrung sprechen wir immer nur im Uergleich. Ein Stein ist im Zustand der Rube, heisst nur: er verandert seine Lage im Uerhdliniss zu anderen Rétpem nicht. 65 gibt keine absolute, sonderm nur relative Rube. Der Stein, den man auf den Rasen legt, ilbt auch ohne weiteres Ueranderungen aus: das Gras wird an der Stelle hell, weil der Stein die Wirkung des ИФ verhindert. Wenn er aber diese Ueranderungen ausiibt, dann kann der Stein nicht im Zustand absoluter Rube sein. So schliesst eigentlich die Veranderung die Beharrung schon aus, oder aber, man kann wol nur von einer telativen Be- harrung sprechen, Weiterbin aber diirfte man aud) nad meiner Meinung vielleicht den Zufall anders beurtheilen als Lindner. Wir reden zumeist nur dann von Zufall, wenn wit nicht alle Ursachen eines Ereignisses kennen, Beispielsweise bei einer Erfindung wie der des Schiesspulvers, wo jemand etwas erfindet, was er nicht gesucht hat, sollte man sagen: die Erfindung war vorbereitet (ohne Absicht des Ausfiibrenden freilic)), der €rfinder erfiillte alle Bedingungen, die noth- wendigerweise die Erfindung hervorrufen mussten. Crotz alle- dem aber michte id) noch energischer als Lindner die gtund- sdtzlide Uerschiedenheit der beiden Gebiete Geschichte und Naturwissenschaft betonen. Die letztere zeigt, wie sid) die: selben Erscheinungen unter gleichen Bedingungen wiederholen, und das Problem det Geschichte lautet nad Lindner dod) gerade: die Entstehung der Uerschiedenheit bei gleicyen Ursachen. »Die Gestime wandeln ihre gemessenen Babnen, Menschen und Udtker kénnen aber itre gehen und bei verschiedenen Mdglichkeiten sich falsch entscheiden , hat Ernst Curtius einmal heh g о ПА а че а Daturgesetz driickt stets ein Miisser С FP MM НЯ OTT ein Sollen aus. Und doch wird es immer aufs neue den Forscher locken, den Gesetzen nachzuspiiren, nad) denen Ustker werden und vergehen, und zu erkennen, wie der Mensch sich von den Gesetzen der natiirlichen Gebundenheit zu be- freien sucht, ohne je ganz von ibnen loszukommen. So Werden denn hoffentlicy alle kleinen Widerspriiche aud nur dazu beitragen, Cindner zu neuem Schaffen zu ermuntern und namentlich durdy Vollendung seiner Weltgeschichte zu be- Wweisen, dass seiner Geschichisphilosophie seine Geschidytspraxis enispricht. Jedenfalls miissen alle, die seine Geschichtsphilo- Sophie wirklich durcharbeiten, mit hohem Respect zu ihrem Autor emporblicken, der uns iiber alle Fragen, die aus der Geschichte aufsteigen, ungemein viel zu sagen bat mit diesem Werk einer teichen und reifen Geschichts-, Lebens- und Welt: anschauung, €r hat damit das Ziel erreicht, das der Altmeister der Geschichtswissenschaft, Leopold v. Ranke, dieser gesteckt hat, ,dass sie sid) von der Erforschung und Betrachtung des Einzelnen auf ihrem eigenen еде zu einer allgemeinen An- УФЕ der Begebenbeiten, zur Erkenniniss ibres objectiv vor: bandenen Zusammenbanas erbebe*. . Cheo Sommertad.