Nr. 4504
		aber nachdem durch Klopstock, Wieland, Schiller, Goethe, Schopenhauer,
Nietzsche ihr Formenreichtum entfaltet worden ist, steht sie in bezug aul
Reichhaltigkeit des Ausdrucksvermégens und Vielgestaltigkeit der Klang-
schénheit hinter anderen Kultursprachen nicht zuriick.

Alle Fihigkeiten einer Sprache kommen erst in der Gespriichskunst zu
voller Geltung. Hier zeigen sich ihre Reize, hier lernen wir ihre Anmut
und Geschmeidigkeit, ihre Zartheit und Feinheit, ihre gediegene Schwere
und ihre grazile Leichtigkeit kennen.

Man kann sich verschieden mit seinen Mitmenschen unterhalten. Man kann
beim Gespriich mit leeren Worten fechten, hohle Phrasen dreschen, Platt-
heiten wiederkiuen, langweilige Gedanken verzapfen, sich in аа ее
Redensarten ergehen — man kann aber auch aus der Tiefe schépfen, geist-
voll sein, Scharfsinn walten lassen, Witz und Ironie verspriihen. Das Niveau,
auf dem die Beteiligten stehen, bestimmt immer die Farbe des Gesprichs. °
Es ist keine Frage, daft die Gesprachskunst von heute einem Vergleich mit
der vor hundert Jahren und noch weiter zuriick nicht standhilt, Der moderne
Mensch verfiigt nicht iiber die vielseitige Beweglichkeit des Geistes, die
seine Vorfahren in der Zeit des Rokokos, des klassischen und romantischen
Zeilalters auszeichnete. Die fortschreitende Spezialisierung hat den Hori-
zont unseres Blickes eingeengt. Das widerspricht jedoch dem Sinn und
Ziel der Bildung; denn Bildung ist neben einem allgemeinen Orientiert-
sein iiber die wichtigsten Dinge des Lebens Entfaltung aller unserer seeli-
schen Fihigkeiten zu einer harmonischen Geschlossenheit.

Wie wenige Menschen gibt es denn heute noch, die interessant und geistvoll
tiber Angelegenheiten reden kénnen, die auRerhalb der Sphire ihres Berufs
liegen! Gewif, es kann nicht jeder in die Poesie der héheren Mathematik
eindringen oder in’ den Regionen abstrakter Philosophie schwelgen oder
iiber asthetische Probleme tiefe Gedanken aufern, aber das Finmaleins
ist uns doch allen geliiufig, iiber Grundfragen der Philosophie ав sich
wohl diskutieren, und fiir Urteile iiber Kunst, welcher Art sie auch sei,
bleibt das Empfinden stets die mafgebende Voraussetzung.

Der gesunde Menschenverstand erscheint mir als das wichtigste Erfordernis
eines kunstvollen Gespriichs. Einen gesunden Menschenverstand haben,
heiftt aber nichts anderes, als den Takt besitzen, andere Meinungen ge-
duldig anzuhéren, deren Ursachen zu erwiigen, und wenn sie der sorg-
fiiltigen Priifung nicht standhalten, sie in einer ruhigen, sachlichen Art zu
widerlegen. Vor allem hiite man sich vor oberflichlichem Kritisieren. Wer
Kritik iiben will, mu iiber Erfahrungen verfiigen, die ihm Méglichkeit zu
Vergleichen geben; denn erst beim Vergleich lift sich feststellen, welches
von zwei Dingen das bessere ist. Allzuleicht artet ein Gesprich ins Kri-
tisieren aus. Viele glauben sich dadurch den Anschein von Klugheit zu
geben, wenn sie schnell und ohne jede Wherlegung ein Urteil fallen, sei
es tiber Fragen der Kunst, sei es iiber Politik oder Wirtschaft, obwohl ihre
andersgearteten Kenntnisse und Erfahrungen ihnen gar kein Recht dazu
geben, Namenilich in Sachen der Literatur und Kunst, wo jeder meint,
mitreden zu diirfen, hat sich die iible Sitte dilettantischen Kritisierens sehr
zum Nachteil einer gediegenen Unterhaltung eingebiirgert. Sie lastet wie
ein Fluch auf unserem heutigen geselligen Verkehr.

Vielleicht hiiite diese Unart sich nicht so breitgemacht, wenn wir nod in
dem gleichen Mae wie die Menschen des achtzéhnten Jahrhunderts die
Kunst des Zuhérens besiifen, welche unbedingte Vorausseizung eines jeden
gut gefiihrten Gespriichs ist. Will ich meiner Meinung Geltung verschaffen,
so muf ich auch den Partner zu Worte kommen lassen. Tue ich das nicht,
sondern warte ich nur auf die Gelegenheit, selbst meine Ansicht zu dufern,
unbekiimmert um die ausgesprochene Ansicht des andern, so begehe ich
damit eine schwere Taktlosigkeit gegen meinen Gespriichspartner und ver-
wirre zugleich die Faden der Unterhaltung. Alle jene Gesprichsuntugenden,
wie Inkorrektheit des Ausdrucks, Unlogik der Gedanken, Heitigkeit des
Wortwechsels, sind die Folgen eines solchen Verhaltens.

Jene schon oben angedeutete Gepflogenheit vieler Menschen, das Gespriich
immer wicder in das kleine Reich einseitiger Berufsinteressen zu lenken,
birgt vor allem die grofe Gefahr der Langeweile in sich. Eine noch so
spannend begonnene Auseinandersetzung iiber ein Spezialthema endet nur
zu bald in einem Leerlauf, weil die Anteilnahme der Zuhdrer erlahmt,
weil. der Mangel eigener Kenntnis und Erfahrungen keine intime Beteili-
gung an dem Gespriich ihnen gestattet. Eine gewisse allgemeine Beweg-
lichkeit des Geistes gehért zu jedem guten Gespriich. Nur dann ver-
mag es abwedhselnd, lebhaft und farbig zu sein. Freilich darf man dies
auch nicht zu weit treiben. Es gibt Menschen, die, wenn sie sich in Ge-
sellschaft befinden, es geradezu als eine Anstandspflicht gegeniiber dem
Gasigeber empfinden, ihre Zunge unentwegt zu riihren, in dem Glauben,
dadurch die Nachbarn und alle Anwesenden zu unterhalten, Sie  schiit-
teln die Siitze schockweise aus den Armeln, kiiuen wieder, was sie tags-
iiber an Lekiiire oder Gespriichen verdaut haben, oder produzieren sich
in aufgespeicherten Witzen und Anekdoten. Solche ,,Gesprichskiinstler“
erfreuen sich unter oberfliichlichen Menschen allgemeiner Beliebtheit. Sie
sind gerngesehene Gesellschafter, ttber die Backfische und Gromiitter zu-
gleich lachen kiénnen. (Schlu@ auf Seite 62.)
		I) HS
	GHESDRPACHS
	VON VALERIAN TORNIUS
	XY fede Папаметкта ое АтБей Капп уегздееп апизаПеп. Епь
TT woter dient sie nur einem bestimmten Zweck und driickt einfach
und schlicht, bisweilen aber auch roh und ungefiige die Absicht des
Schaffenden aus, oder sie erfiillt, von der Phantasie befruchtet und von
dem Empfinden ‘fiir Form geleitet, neben dem praktischen noch einen
kiinsilerischen Sinn.

Nicht anders ist es mit der Sprache. Der eine kleidet seine Gedanken in
das Gewand einer niichternen Mitteilung ohne Riicksicht auf die Wahl der
Worte, die Schénheit des Satzbaues. Sein ganzes Bemiihen geht nur darauf
aus, sich dem Mitmenschen verstiindlich zu machen. Ein anderer wiederum
strebt nach einer gehaltvollen und zugleich dsthetischen Ausdrucksweise.
Ihm sind das Wichtigste die Mittel, durch die er eine wohltuende Wirkung
auf Ohr und Gemiit der Zuhérer ausiiben kann.

Beide Arten der Sprache haben ihre Berechtigung. Es wire licherlich, wenn
man im Alltagsverkehr ein Schénredner sein wollte, aber es ist еБепзо ВаВ-
lich, wenn man im gesellschaftlichen Umgang sich gehen lift und auf Jede Sorg-
falt der Wortprigung verzichtet. Wir diirfen nicht vergessen, daf die Sprache
immer der letzte und feinste Ausdruck einer Kultur bleiben wird. Sie ist
wie eine zarte Pflanze, die sich bei umsichtiger Pflege vielfiiltiger und schéner
entwickelt, und die darum vor allen stérenden Einfliissen, welcher Art sie
auch sein mégen, bewahrt werden muff. Sie hat, wie diese, ein organisches
Wadchstum, und es sind die grofen Dichter eines Volkes, die an ihr meistern
und ihre Ausbildung und Verfeinerung férdern. Man denke nur, welch ein
Unierschied zwischen einem von Luther geschaffenen Hochdeutsch und einer
Sprache im ,Tasso“ oder in den ,,Wahlverwandischaften* besteht. Jene
wirkt wie ein primitiver Holzschnitt etwa von Hans Burgkmair, diese wie
eine in Licht und Schatten fein abgeténte Rembrandt-Radierung. In der
Sprache eines Goethe lebt der harmonisch ausgeglichene Geist der Kultur
des klassischen Zeitalters und zugleich schon das erwachende Bewufttsein
einer Menschheitsepoche, die Naturwissenschaft und Technik zu ihren Géttern
erhebt. Und weil sich eben in der Sprache die edelste Bliite einer Kultur
zeigt, ist Sprachflege eines der wichtigsten Erfordernisse jeder Kultur.

Von Augen und Sprache geht der erste Eindruck eines Menschen aus. Ehe
ein niherer Umgang uns mit seinen Charaktereigenschaften vertraut macht,
bilden wir unser Urteil iiber ihn nach diesen beiden Merkzeichen. Darum
werden ja die Augen als der Spiegel der Seele bezeidinet. Ebenso lassen
sich aus der Sprache Sdhliisse iiber die seelische Struktur eincs Menschen
ziehen. Wer sich nachlissig und plump ausdriickt, zeigt damit, daf er auch
ein schlottriges und ungehobelies Wesen hat. “Umgekehrt: gepflegte und
 sorgfiltig erwogene Sprache setzt ein geordnetes Innenleben voraus und er-
weckt Sympathien, Der Zauber mancher Persinlichkeit riihrt oft von der
Art des Sprechens her, von dem melodischen Tonfall der Stimme, von der
Form des Gedankenausdrucks, von der Mannigfaltigkeit des Wortschatzes
und von der Kunst des Satzbaues. Wie unangenehm kénnen uns doch Men-
schen werden, die vorlaut und kreischend ihre Meinung dufern oder un-
ausgeseizt fades Zeug plappern! Man sage nicht, daf# solche Unarten un-
ausrottbar seien. Stimme, Aussprache und Sprechart kénnen durch Selbst-
erziehung gebildet und verbessert werden. Wie man die Kinder in der
Schule das Schinschreiben lehrt, so sollte man ihnen auch das Schénsprechen
beibringen. Im Altertum und auch noch im Mittelalter spielte es eine groke
Rolle im Unterricht. Das spiirt man noch jetzt, wenn man nach Italien
kommt. Jeder einfache Mann befleifiigt sich dort einer klangvollen und
stilisierten, gut geformten Ausdrucksweise. Das liegt keineswegs am schinen
Wohlklang der italienischen Sprache. Nein, diese Sprache hat sici so wohl-
klingend gebildet, weil die Tradition des Schénsprechens in diesem Volk seit
dem Altertum lebendig geblieben ist. Wer einmal den beriihmten Schau-
spieler Joseph Kainz hat reden héren, der weif, welche Méglichkeiten schéner
Klangwirkung in unserer Sprache enthalten sind. Als sie noch ein schwer-
fiilliges und umstiindliches Kanzleideutsch war, da mag das Urteil Karls V.,
daft sie eine Sprache fir Pferde sei, eine gewisse Berechtigung gehabt haben,