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DER SPORTLER

ZU GDBOcCHS TLEAISTUNGEN?
	DIE MEDIZINISCHE
GRUNDLAGE

DES REKORDES
	VON Dea. meno. FRANZ KELLERMANN. KIEL
	das Unvorhergesehene, das unbedingt itiberwunden werden muf!
Und das Ubervaschende wirkt tief auf den Menschen. Wenn
jemand plétzlich eine unerwartete schlechte Nachricht bekommt,
wird sein Gesicht leichenblaf, kalter Schweif bricht aus, das
Herz schligt sdinell, die Augen treten hervor, die Pupillen
werden erweitert: ein Symptomkomplex, der dem Mediziner
sehr gut bekannt ist als Ausdruck der Reizung des sogenannten  
vegetativen oder autonomen Nervensystems. Autonom wird
dieses Nervensystem genannt, weil es alle von unserem Willen
unabhingig funktionierenden Organe, Herz, Lungen, Darm,
Magen usw., versorgt.

Die Reizung des vegetativen Nervensystems ruft bei Tieren
genau das gleiche, eben geschilderte Bild hervor. Unter-
suchungen haben ergeben, da die Tiere durch Reizung des
vegetativen Nervensystems voriibergehend im Urin Zucker aus-
scheiden.

Die Entdeckung, da@ eine voriibergehende Zuckerausscheidung
nach einem aufregenden Fuftballmatsch bei einem grofen Teil
sowoh] der Spieler als auch der Zuschauer vorhanden war,
lenkte die Aufmerksamkeit einiger amerikanischer Forscher auf
die Zusammenhinge zwischen vegetativem Nervensystem und
Muskelfunktion.

Die zur Untersuchung dieser Zusammenhiinge angestellten Ver-
suche haben gezeigt, daf bei Reizung des vegetativen Nerven-
systems der arbeitende Muskel erstens spater ermiidet, zweitens
der ermiidete Muskel sich rascher erholt, und drittens, da& die
Muskelinnervation exakter vonstatten geht, also alle jene Fak-
toren gemeinsam in die Frontlinie treten, die die Leistungs-
fihigkeit der Muskeln steigern kinnen.

Zum Sport bzw. zu einer Rekordleistung gehirt die Mitbeteili-
gung eines Nervensystems, dessen In -Funktion-Seitzung nur
unabhiingig von unserem Willen erfolgen kann. Man vermag
dieses Nervensystem nicht kiinsilich zu reizen, wohl aber Situa-
tionen zu schaffen, durch die der gewiinschte Reizzustand ein-
tritt. Und solche Situationen schafft der Sport massenhaft. Wir
diirfen nicht vergessen, ЧаВ das Unvorhergesehene, das zu iiber-
windende Hindernis, bei einem wirklichen Sport in jedem
Augenblick auftauchen kann und diese Bereitschaft zur Uber-
	windung des Unvorhergesehenen den Reiz fiir das vegetative
Nervensystem darstellt.
	Leibesiitbungen und Gymnastik, bei denen das Unvorhergesehene
fehlt, sind wohl geeignet, die Gelenkigkeit zu steigern und durch
systematische Arbeit die arbeitenden Muskeln zu_ stirken,
reichen aber noch lange nicht aus, Sportrekordleistungen zu
vollbringen.

Anders ist es bei einem wirklichen Sport, bei dem das Mo-
memt des Unvorhergesehenen das vegetative Nervensystem in
einen stindigen Reizzustand versetzt und auf diese Weise nicht
nur die Muskelkraft, sondern sozusagen auch den Muskelverstand
in den Kampf zieht.

Obne Unvorhergesehenes gibt es keinen Sport. Dieses kann
bedingt sein durch die Leistung des Gegners, wie z. B. beim
Laufen, Schwimmen, Boxen, durch die Unberechenbarkeit des
Pariners, z. B. beim Reiten, oder durch die Gefahren der Bahn,
wie beim Autosport.

All das erfordert eine stindige Bereitschaft zur Hichststeigerung
der Leistungsfihigkeit, da das zu iiberwindende Hindernis in
jeder Sekunde auftauchen kann. Es ist allgemein bekannt, daft
es einem Lauf- oder Schwimmchampion noch nie gelungen ist,
seine beste Leistung ohne Gegner fertigzubringen. Da fehlt der
Kampfgeist, die psychische Mitbeteiligung, das zu iiberwindende
Hindernis, der Gegner, den man besiegen soll.

Kurz: der wirkliche Sport bedarf der Aktion der Seele. Die
Muskelkraft ist nur der Mechanismus, der gesteuert werden
шов, ип dieses Steuer ist jenes vegetative Nervensystem, das
nur durch psychischhe Momente zur Wbernahme dieses Ehren-
amtes gezwungen werden kann.

Die Muskelkraft allein kann nie siegen! Zum Sieg gehirt der
Muskelverstand, eine Peitsche, die, wie wir gesehen haben, die
Leistungsfihigkeit auf dem Umwege der Seele, durch ein sonst
nicht reizbares Nervensystem steigert.

Zum Schlu& noch eine Bemerkung. Wenn wir Sport sagen, ver-
stehen wir stillschweigend immer verniinftigen Sport. UWher-
treibungen, halsbrecherische Artisten-Produktionen, uniiberlegte,
sinnlose Herausforderungen der Gefahr haben weder mit Mut
noch mit Sport zu tun und sind Entartungen, die von nie-
mandem strenger verurteilt werden als von dem wirklichen
Sportsmann.
	See“ er grofie Aufschwung und die allgemeine Verbreitung des Sportes bei
allen Kulturvélkern und in simtlichen Gesellschaftsklassen sind ein Hauptmerkmal
unseres Zeiialters.

Wenn wir uns die Frage stellen, in welchem Organ des menschlichen Kérpers der ana-
tomische und physiologische Wohnsitz des Sportrekordes zu suchen ist, so miissen wir
uns, um die richtige Antwort zu erhalten, vor allem von einem eingebiirgerten Irrtum
losreiffen. — Es steht heute fest, so paradox es klingen mag, da Sport und Korper-
kraft miteinander nichts zu tun haben.

Das Grundmotiv des Sportes in allen seinen Abarten und Formen ist die Bewegung,
und deshalb wird es vielleicht richtig sein, zuerst eine physiologische Analyse der Be-
wegung zu geben. Eine Bewegung erfolgt durch die Betitigung des Bewegungsapparats,
der einen Teil des Zentralnervensystems, die quergestreiften Muskeln und das Skelett
mit seinen Gelenken umfaft. In einem Teil des Zentralnervensystems entsteht der von
unserem Willen abhingige Reiz, der durch die Nerven auf die Muskeln iibertragen wird.
Die Entstehung und die Ubertragung des Reizes auf einen bestimmten Muskel nennen
wir Muskelinnervation. Der innervierte Muskel beantwortet diesen Reiz, indem er sich
verktirzt und durch diese Verkiirzung eine Zugwirkung auf jene zwei Knochen ausiibt,
an denen er haftet, und diese beiden Knochen durch die Vermittlung des eingeschalteten
Gelenkes einander niihert. Wenn dieser Bewegung ein Widerstand entgegengesetzt wird,
verkiirat sich, um seine Zugwirkung zu erhéhen, der Muskel mehr, d. h. er entfaltet zur
Uberwindung dieses Widerstandes seine Kraft. Exakte Tierexperimente haben gezeigt,
daft die Kraft, die von einem Muskel aufgebracht werden kann, ausschlieflich von
seinem Querschnitt abhingig ist. Unter der Einheit der absoluten Muskelkraft versteht
der Physiologe jenes Gewicht, das ein Quadratzentimeter Muskelquerschnitt nach oben
zu heben vermag. Mit anderen Worten: je dicker der Muskel, desto gréfer ist seine
Kraft. Wenn also die Muskelkraft die ausschlaggebendste Rolle im Sport spielen wiirde,
miiftte der Mensch, der den gréften Muskelquerschnitt besitzt, der Universalsportchampion
in allen Sportarten sein. Daf dies nicht der Fall ist, muf nicht erst bewiesen werden.
Der absoluten Muskelkraft kommt also beim Sport keine vorherrschende Bedeutung zu,
und zwar aus dem Grunde nicht, weil die Verkiirzung eines einzigen Muskels zur Aus-
fiihrung einer Bewegung nicht ausreicht. Auf ein Gelenk wirkt nicht ein einzelner Muskel,
sondern eine Anzahl von Muskeln und Muskelgruppen, die teils in gleichem, teils in ent-
gegengesetztem Sinne ihre Funktion ausiiben. Wenn ein Gelenk gebeugt werden soll,
geniigt nicht die Verkiirzung der Beuger, sondern es miissen die entgegengesetzt wirken-
den Strecker erschlafft werden. Die Beuger empfangen einen Reiz zur Verkiirzung, sie
werden innerviert, die Strecker lassen in ihrer Spannung nach, sie werden desinnerviert.
Wir nennen diese Zusammenarbeit mehrerer, auf ein Gelenk wirkender, verschiedener
Muskeln und Muskelgruppen, die zur Ausfiihrung einer zweckmafigen Bewegung innerviert
bzw. desinnerviert werden: Koordination! Diese Koordination ist nichts anderes als eine
Arbeitsteilung zwischen den einzelnen Muskeln. Dadurch wird zwar die absolute Muskel-
kraft nicht:erhéht, aber die Leistungsfahigkeit durch 6konomische Ausniitzung der zur
Verfiigung stehenden Kriifte gesteigert. Mit gleich groften Kraften wird also jener der stirkere
sein, der an Kraft nichts verschwendet und seine Vorriite besser ausniitzen kann.
Woran liegt. es nun, daf der eine seine Krifte besser auszuniitzen vermag als der
andere oder mit weniger Kraft mehr zu leisten imstande ist als der ihm an Kraft
weit Uberlegene?

Jedem sind Fille bekannt, in denen Menschen in Gefahr Korperleistungen vollbracht
haben, die man ihnen nie zugemutet hiiite. So legten z. B. im Kriege schwerverwundete
Soldaten Fuftouren auf unwegbaren, schlechten Strafen zuriick, die sie in bester kérper-
licher Verfassung in tadelloser Touristenausriistung nicht bewiiltigt hiitten. Jeder wird sich
auch an Erziihlungen erinnern, in denen schwache Frauen um ihre Kinder gekiimpft haben
und dabei starke Miner besiegten. Livingstone berichtet in seinen Reiseerziihlungen
von einem Uberfall seines Lagers durch zwei Léwen. Zwei iiltere Teilnehmer der Expe-
dition, ein Geologe und ein Professor der Botanik, die friiher nie Sport betrieben
hatten, sprangen auf, der eine kletterte auf einen Baum, der andere lief davon und
sprang iiber einen Graben, den vielleicht der geiibteste Springer nicht hiitte iiberspringen
kénnen. So retteten beide ihr Leben. Bei allen diesen Fallen handelt es sich nicht
um die Erhéhung der Kraft, sondern um eine maximale Steigerung der Leistungsfihigkeit:
und das ist der springende Punkt des Sportes.

Wir fragen nun, wodurch trat bei allen diesen Fiillen die plétzliche Steigerung der
Leistungsfihigkeit auf? Alle obenerwiihnien Fiille haben ein gemeinsames Grundmotiv: