Nr. 4325
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	ie Heldin dieser kleinen Geschichte ist eine Junge Dame von Welt, eine
Englanderin. Sie hei®t Vivian.
Sie ist verliebt in einen Herrn namens Almansi, einen edlen, dunkelhiutigen,
kiihnen Capitano, Kommandanten eines italienischen Kleinen Kreuzers. Sie
gesteht es sich allerdings nicht ganz ein.
Die Geschichte spielt in Venedig. ‘Im Karneval.
	 
		Der lag kam.

Schnee war gefallen, deckte die zierlicie Piazzetta und die weite Piazza San
Marco, hiillte die heroische Riva degli Schiavoni in Linnen, lichit und mild. Die
Masken huschten wie traurige Schatten und Gespenster durch den aufge-
schaufelten Schnee. Die Kanile flossen in einem triiben, matten Braun dahin.

Es gab Damen im schwarzen Dreispitz, mit wiegendem Reifrock, die
schwarze Halbmaske vorm Gesicht, die die Venezianerinnen schon zu Zeiten
des Casanova trugen, Dogen und Dogaressen, und in allen Winkeln bedringte
veririumt und bleich ein Arlecchino eine reizende Colombina.

Der Capitano war in einem Kostiim von orientalischer Buntheit erschienen.
Er verkérperte eine Figur aus Boitos ,,Gioconda*, einer Nationaloper der
Italiener.

Vielleicht waren es ihre kiihlen und fremden Bewegungen, vielleicht war
es die Magie der Liebe: der Capitano erkannte trotz der Maske die Kénigin
und Gdttin Vivian sofort.

Es wurde eine siiRe und wilde Nacht, und die Romantik des venezianischen
Karnevals mischte sich in ihr erfolgreich mit der lichelnden Frechheit des Jazz.
	» Wissen Sie, was es heiltt, dieses ,Carne vale‘? — Leb’ wohl, Fleisch!“
interpretierte eindringlich Almansi. .,Fleisch, lebe wohl! ... Dann kommen die
Fasten ... Es werden lange, trostlose Fasten, Vivian... Es wird ein ewiger
	Aschermittwoch ... Morgen lauten wir aus... Nach Aden... Vor einem halben
{ahre sind wir nicht zuriick... Der Himmel weif, ob ich Sie je wiedersehe .. .
ivian .. .“

Oh, er konnie betérend englisch radebrechen, und den Charleston exekutierte
ег feurig und ernst wie einen spanischen Fandango. Er war alles in allem schén
und siidlich, wie ihn sich ein kleines Madchen aus England nicht schéner und
siidlicher wiinschen konnte, und es war in Venedig und Karneval, und die kiihle
Vivian begann schon, seinem Zauber zu erliegen. Irrsinnige und verfiihrerische
Argumente hatte sie fiir sich bereit. Wer sagte ihr, was Algernon in Indien
oder China irieb? Die Viscounts verstanden von je, das Leben zu nehmen.
Wer garantierte ihr, wie lange sie schén und jung und begehrenswert blieb?
Venus regierte die Stunde. Bacchus stiirmte in ihrem Blut. Sie lachte, und
lachend zog sie der dunkelhiutige, kiihne Capitano aus dem Saal. Da plotz-
lich, unvermitielt, zu seinem eigenen Schrecken erbleichie Vivian, schrie auf
und sank, erloschen, in sich zusammen.

[hr war .... Es war ihr, als hatte der goldgestickte Tiger mit seiner prunk-
vollen und gewaltigen Pranke sie niedergeschlagen, dumpft und schwer.
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		HARLEKIN ODER PIERROT?
Zeichnung von Hermann Ebers.
	Wenn der edle, dunkeihautige, kiihne Capitano die Halle des Hotels Danieli
betritt, in dem Vivian kiihl, blond, englisch und selbstverstandlich wohnt, so
kann er in jedem Falle damit redinen, eine bis anderthalb Stunden zu friih
gekommen zu sein. Er wird ein wenig an der Nase herumgefiihrt, der edle
Capitano. а +

Man komme keinem Italiener mit dem Worte Karneval. Es sei denn, man
ist gefaft, eine Elegie anzuhéren von damals, als alles so herrlich gewesen, so
leicht und so heiter, damals, ah... Es hat etwas Archaisches, zeitlos Fernes,
Homerisches an sich, dieses ,Damals*, und niemandem, der es hort, wiirde
einfallen, es auf die Zeit vor 1914 zu _beziehen.

»Und tanzt man nicht im Teatro Fenice?“ fragte Vivian den Capitano.

»Wie kommen Sie darauf?“ wurde edel und melancholisch geantwortet.

»/s steht bei Lord Byron . ...“

Der Capitano schiittelte traurig das Haupt. Es gibt keinen erbarmungs-
wiirdigeren Anblick als einen ungliicklich liebenden Italiener.

»Aber wir werden tanzen. Hier, im Danieli*, sagte Vivian, und ihre kést-
lich langen Beine zuckten im Rhythmus eines jener niichtern aufregenden
(der dunklen Glut des Siidlinders ewig fremden) Tanze, in denen negroides
Temperament mit anglikanischer Frigiditat sich paart. Der Genuese Almansi
hafite diese Tanze.

Nichtsdestoweniger lie® er sie heimlich, ernst, verzweifelt von einem kleinen
Leutnant sich beibringen; hinten, auf Achterdeck, wenn niemand nichts sah, des
Abends, nach Einbruch der Dunkelheit.

»Denn ich dulde, ich dulde es nicht, da@ sie mit anderen tanzt. Ich stiirbe,
wenn ich sehen miifte, wie sie sich dem Rhythmus eines anderen hingibt .. .“
sagte sich bla® und rasend der Capitano.

* Е *

„Ге jour viendra* hie das verheifungsvolle Parfiim, das Vivian mit Vor-
liebe benutzte.

Der Tag kam.

Vivian hatte tibrigens — jeder Zoll englische Gelassenheit — mit Skizzen-
blods und (eingeschmuggeltem) Photographenapparat mehr Zeit im Kriegs- und
Marinemuseum zugebracht als an ,,den Tag* gedacht.

»lch habe nicht einmal ein Kostiim .. .*

Sie kramte in ihren Koffern.

.tch kann doch nicht im Pyjama gehen. . .*

Zwar, er war reizend, heliotropfarben, mit einem Hauch von Beige... Aber
schlieflich war das Danieli keine
Bar in London East.

Plétzlich hielt sie zu suchen
inne, zog ein langes, zitronen-
gelbes und goldbesticktes Gewand
hervor und betrachtete es.

»Wie mag das sich hierhinein
verirrt haben ?*

Girls von 1928 haben keine
Zofe. (Die Zofe ist ein Requisit
von vorgestern und nur noch in
erotischen Romanen mdglich.) Also
hatte Vivian gedachtes zitronen-
gelbes und goldbesticktes Gewand
vermutlich selber eingepackt.

Es hatte seine Bewandinis mit
dieser aufterordentlich wertvollen
Textilware.

Vivian hatte sich — zum Fnt-
ziicken ihrer auch sonst von ihren
Taten begeisterten Familie — ver-
lobt mit einem jungen Mann, der
auRer dem Namen Algernon den
Titel Viscount und eines der an-
sehnlichsten Vermégen in Eng-
land besa. Die Verlobung er-
foigte schriftlich. Algernon war,
als Vivian sich verloben wollte,
gerade in Bagdad. Er reiste dann
weiter und schickte — aufer
Briefen, die eines Shelley wiirdig
gewesen waren — dann von irgend-
woher dieses Kleidungsstiick, aus
Indien oder China: den Mantel
eines Gottes oder eines Kénigs.
(Vivian wuftte es nicht genau.) ,,Kr
schiitzt die Liebenden*, hatte er
damals_iiberfliissigerweise dazu
geschrieben ...

Vivian wihlte den Mantel eines
Goties oder eines Kénigs zum
Maskenball, und sie sah selber
héchst kéniglich und wie eine
Gottheit aus, strahlend in Gelb
und Gold und Blond, als sie ihn
angelegt hatte. Ein Tiger, ein
groRer, miichtiger, goldgestickter,
war der einzige Schmuck des
Riickens, und er legte seine
prunkvolle und gewaltige Pranke
golden auf ihre Schulter. Е

Vivian lachelte.

Phantastisch, diese Gstlichen р аи аа.

 
	Volker!
	„Оо уоц 1ее! БеЦег пом?“ fragie im l on der englischen Nurse ein blasses
Madchen, das an ihrem Betie wachte.

Der Morgen stieg grau und iriibe aus den Lagunen.

Sirenen heulten.

Vivian sah nach der Uhr. Das war nicht die Zeit der grofen Adriadampfer
nach Ancona oder Triest...

Vivian sprang ans Fenster. Grau in Grau zog ein Schiff in der
stygischen Flut. Fern, bei den Giardini Pubblici. Langsam, oh, so lang-
sam! Aber Vivian erschien es un-
sagbar iibereilt.

Das Schiff zog weiter. Grau in
Grau. Langsam und unabinderlich.

Die iibernichtige, zarte Vivian
hinter einem Fenster des Hotels
Danieli winkte traurig, bis es ver-
schwand.

Dann kehrte sie zurtick in ibr
Bett, dessen Decken noch warm
waren von der Nacht und dem
Schlaf.

ole kénnen jetzt gehen“, sagte
sie zu dem blassen Madchen.

Als sie allein war, weinte sie.

 
	ole
	 
	Der Schluf& dieser Geschichte
spielt auf der Insel Wight. Es ist
Sommer, wirklicher Sommer mit
Siidwind, blauer See und Gliick
im Griinen.

In einem weinlaubbewachsenen
Landhause sitzen Vivian und Al-
gernon. Sie haben Polo gespielt
und irinken eisgekiihlten Tee.
Vom Garten weht der Пий
der Zitronengrasstriucher in dic
Halle.

» War es sehr ernst?“ fragt Al-
gernon die zarte Vivian, die jetzt
braun ist.

»oehr, Algy, und ich hatte dich
beinahe vergessen . . .“

»Aber héchst sonderbar, die
Geschichte mit dem Tiger... Er
driickte dich einfach nieder?“

»Es war mir, als driicke er
mich nieder. Es schmerzte sogar,
so schwer legte er seine Pranke
auf meine Schulter. Aber es war
natiirlich eine Halluzination. Heift
es nicht ein ,seelisches Trauma‘ in
der bezaubernden Sprache der
neueren Psychologie?“

Algernon wufte es nicht. Ex
hatte sich nicht mit neuerer Psycho-
logie beschiftigt.

»lch schrieb dir ja, daf er
die Liebenden schiitzt“, sagte er
lachelnd.

»Aber, Algy!* rief Vivian, ziirt-
lich entriistet. Wer wird an solch
altmodisches Zeug glauben!*