Ventfhen Runlblattes. DPonnerftag, den 7. BWuaguit. Ssubalts Die Lente von Gelbwyla. буабпищен von Gottfried Keller. — Mlonatsjdhrift fur Cheater 2с. — Cheatralifdes von Woltersoortf. — Atalanta Bagliont son Loburann. — Die Cnuisiehung ber Bore ind Bwifdenmufié von Gubik. — Was Bhr wollt. — Beitung. — Gicwlarfeter bes _З’орезмае8 Georg Wriedrids OHaendel’s. Hie Lente von Seldwyla. Erzahlungen vor Gottfried Keller. Die Srzahlungen find das Erzeuguip einer eben fo urppriag- lichen al8 vollfraftigen Dichternatur; den Choarafter devfelben fam man, die vichtige Faffung pes Begriffes vorausgefebt, al8 einen ge- linden Humor begeichuen, 6. h. al8 einen folchen, welcher nicht in gewaltigen Syvriingen fic) awifdhen den Meiden bes Bdenlen und Realen, des Erhabenen und des Komifden hin und her bewegt, fon- реги auf der mittleren Linie ded wirflichen Lebens einen anmuthigen Gang geht. Der Erfolg diefer gefunden und gelinden Humovriftifehen Weltanfhauung ift e8, die Poefie und die Brende des wirklichen Lebens darin gu finden, gu enthiillen und darguftellen, dag neben dem Keinen vas Grofe, neben vem Schwachen und Feblerhaften das Uigiehende und Liebenswiirdige, ucben dem Ginfachen цих ЗИ: Ифей 28 Ziefe und Mtachtige, das Ergreifende und Gewaltige der inneren Menfchennatur зи Tage tritt, Dem adhten Humor ift 8 immer eigen und Gottfried Keller verfteht c& ganz vorziiglich, feinc poctifden Geftalten mit der fearffter und feinften pragmatifden Wahrheit gu entwideln; dadurd wird ber Mtenfch und das Menfch- fide unmittelbar im Gangen wie int Eingelnen уши Gegenftand des Humors, weil eben auf die Eleinen und feinen Anfinge der Bildung ber Budividualitat juriidgeqaugen, ihre Grife und Bedeutung уме gleich (und jum Theil daraus) begriffen, ihre meannigfaltige Aeufe- cungsiveife gugleid) erfanut und erflart wirr. Darum wird diefe poetifche Geftaltungsform immer fo angiehend, fo erquidend und er- Hhebend fein, fo gang und gar an das ganze Herz ded Lefers fich anfcjmiegen, wenn fie mur wivtlid, wie 8 hier gefchehen iff, ctner- feite bis in jene Hetnften Vergweigungen ver Lebensiwurzeln der In- pividualitit Hinabjteigt, und anbdererfeits gu einer blihenden und fruchtivagenden Krone derfelben fich erhebt; im Spiegel des Wirk- Lichen jeigt fie dann jugleid) die Sehufudt und den Auffdwung des idealen Vebers. Wie fehr ev fich diefer Aufgabe des pfychologifchen Pragnra- tismus bewupt ift, und wieviel Hihigheit ev befigt, fie gu (fer, zeigt per Verf. gleich in der Arlage feines Buches; die verfchiedenen Er- gablungen ftehen in feinerlet duferliden Zufammenhang dev Зее fonen oder Handlungen, aber ev hat ihnen einen innern 2ufammen- hang gegeben; e8 find fimmtlic) Leute von Seldwyla ; fie haben alle den gemeinfamcen Boden entweder der Entwidelung oder der PVethitiguug thres indiviouctlen Charakters. Unfere geneigten Lefer ecinnerit fic) vtelfeidht de8 im Viteraturblatte (Nr. 25 des fechsten Sahrgangs) entiidelten Gedankens, von der Nothwendigkeit arch fiir jebe freipoctifcbe Aftion cinen realen und hiftorifcerr Boden gu fuchen UND зи Zeidnen; uirgends wird bas Gefey fo unbedingt gelten, als fiiy alle cpifcdbe Poefie, und die Gefchidite oer neneven Boelie beweitt rach, daZ jpelbjt mittelmapige Dichter weniaftens im Moman dent Jelben gefolgt find. Seller Hat died und nod) mehr gethan; nicht einen blof allgemeinen weiten, nationalen, fondern einen nahen, bee ftimmtien Hintergrund hat ev geseichnet; wohl wiffend, Зав die Ente widlung der Sudividualitdt gundchft und gumeift von der beftimmten und natiirliden Wnlage und ber nachften Umgebung, von den indie piduellen Verhiltnifjen und Chavatteven der eignen Familie bedingt ЧЕ, da aber auch bon den sffentliden Zuftinden dev Stadt, vow ber burchfdjuittlidhen Gitte, едина, Michtung und Wert dev gefamm- ten Ginwohner mancerlet Cinfliiffe auf jedes Gemiith, mance Bee dingungen filr jede Handlung, manderlei Antrieh und Hemmang fiir jeden Charafter entfpringt, hat ev ein Bild von Selbwyla und fei- nen Ginwohnern entworfen, bepor ev uns in die einjelnen Strager und Hiufer einfiirt, wo wir die Helden feiner Gefdhichten finben. Mit wenigen aber meifterhaften Ziigen zeidynet ev in den Selbwylern cin Leichtes und {ecleres Vilflein; Selwhla heift ein wonniger und fonniger Ort irgendwo in ber Schweiz, und ift daher aud) in pen dortigen politifden Verhaltniffen verflodten; aber pas Leben der Selowhler ift nidt auf die That, fondern auf den Genuf geftelit, und nidt bloB jene wird mehr durd den Schein evfegt, fonderw aud) diefer ift auf den Schein gerichtet; bas Streben ift fraftlos, die Aiele ohne Marf, das Leben ift leicht, Lofe und leer. Зи allen Dingen des sffentliden, wie de8 Privatlebens fehen wir alfo ver- fallene und verfallende Verhaltnijfe. Was fann auf einem jolden Boden Gutes gedeihen? — So Wnnte man wohl fragen. Und in ber That lag die Gefahr nahe genug, entweder zur reinen GSatyre gut gelangen, ober tu eine fitr die Poefie wie fiir das Leben gleich fehr nichisnubige Weltfchmerzempfindung зи verfinfen. Statt deffer bringt uns dev Verf. Didhtungen, welche Freude bereiten, weil fie aud) auf diejem Boden die Freube am Leben erhalten; aud anf Lavaboden der Wirklichfeit fpriefen die fraftigften Reben ver Poefie. Was fonn auf diefem Boden gedeihen? Es ift gweifelhaft, ob dex Dichter diefe Frage fic) in bewufter Weife vovgelegt Hat, um in feiner Dichtung eine WAntwort parauf zu geben; aber demnod) glauben wir ganz aus dem eigeniter Snhalt derfelben Herans die Setvachiung zu nehinen, daf diefe Frage ver gemeinfame Kern oder Stamm iff, aus welche die verfchiedenen Grsthlungen wie ver- fchiedene Zweige hervorgewadfen find; uns wenigftens Hat fic) dic Anfchauung aufgedvangt, dag die verfchiedenen Crgahlungen zeigen, wie unter verfdiedenen Bedingungen auch auf diefem morfden und ruinenhaften Grunde fic) ein mannigfaltiges, indiniduelles, dharafte- ИН Geftimmics, alfo reigvofled, wahrhaft poetifdes eben ges ftaltet. Зи dev erften Ergibling feben wir einen bedentenden Sharafter und durchans cigenthinunlihe Lebensverhiltuiffe fics padure) entwideln, da der Held der Gefchidhte, nachoem die erften Anfange fener Su- pividualitat unter den beimifden Verhattniffen fied entfaltet baberr, 16