DAS KUNSTBLATT HERAUSCEBER PAUL WESTHEIM
Gegen den Abbau des Geistes
Paul Westheim:
Das Bürgertum befindet sich in einer Krise. Wirtschaftlich und politisch. Ob es sein Schicksal sein wird über kurz oder lang, zwischen Kapitalismus und proletarischer Masse zerrieben zu werden, weiß niemand. Was Politiker und Wirtschaftler uns sagen,
ist Prophezeiung. Prophezeiung, mal so, mal so, gefärbt durch die Parteibrille. Wir glauben an vieles; aber am wenigsten an die Prophetien des Fachmannes. Haben wir doch allzu oft nur erleben müssen, daß meist gerade das Gegenteil von dem eingetroffen ist, was die Fachleute mit Bestimmtheit in Aussicht stellten. Bleiben wir also bei den Tatsachen. Tatsache ist, daß das Bürgertum in seiner gegenwärtigen Verfassung sich
in einer schweren Krise befindet. Folgenschwer auch für das Kunstschaffen. Denn Träger des zeitgenössischen Kunstschaffens war seit der französischen Revolution das Bürgertum, vor allem das gebildete Bürgertum, das Publikum Goethes, Schillers, Hebbels, Wedekinds.
Die alten Gewalten, die bis 1793 Kontrahent des künstlerisch Schaffenden waren, treten als Auftraggeber immer mehr zurück. Die Aristokratie? Bekannt ist die Briefstelle Fontanes aus dem Jahre 1890, „ich habe unserem von mir aufrichtig geliebten
Adel gegenüber einsehen müssen, daß uns alle Freiheit und feinere Kultur, wenigstens hier in Berlin, vorwiegend durch die reiche Judenschaft vermittelt wird“. Es ist eine Tatsache, fügt er hinzu, „der man sich unterwerfen muß und als Kunst- und Literatur
mensch (weil man sonst gar nicht existieren könnte) mit Freudigkeit“. Die Kirche hat erfreulicherweise niemals aufgehört, die Gemüts- und Gesittungswerte, die die Kunst vermittelt, zu fördern und zu pflegen. Sie vermag dem Kunstschaffen freilich nicht mehr die großartigen Möglichkeiten zu bieten wie im 13., 14. und 15. Jahrhundert, und da sie selbst auf Tradition bedacht sein muß, ist ihr bei der Forderung des Kunst
schaffens nicht das Künstlerische, sondern die Wahrung der Tradition das Primäre. Der Staat sucht zu erhalten, zu retten, zu stützen und zu unterstützen. So anerkennend vieles - nicht alles — ist, was er als Kunsterhalter leistet, positive Anregung, Förderung großen Stiles wie von Kaiser Max oder Ludwig XVI. kann man auch von den vorzüg
lichsten Geheim- und Ministerialräten, selbst wenn sie das Beste wollen und gegen außerkünstlerische Einflüsse, die sie bedrängen, nahezu immun wären, nicht verlangen.
Der Kapitalismus braucht die Kunst nicht; er weiß auch nichts mit ihr anzufangen. In seiner Frühzeit, solange er nur eine Macht neben anderen Mächten war, brauchte er sie noch zur Repräsentation. Für die Fugger war es Notwendigkeit, durch Aufwand von Pracht dem Adel gegenüber sich als ebenbürtig zu erweisen. Der reich ge
wordene Bankier des 19. Jahrhunderts hatte den Ehrgeiz, hoffähig zu werden. Er strebte danach, nobilitiert zu werden, ließ sich ein Palais bauen und ließ das Palais mit Kunst ausstatten. Nachdem es diesen Ehrgeiz, neben Hof und Adel als Geldaristokratie gleich