PAUL NICOLAUS STEINER




Über Genie und Gesellschaft


Jedes Ding hat einen Anfang und zwei Enden: ein menschliches und ein künstlerisch gesteigertes. (Das menschliche ist künstlich gesteigert.)
Erwägungen über Nützlichkeit und Brauchbarkeit schaden der Kunst. Erst da ist die Kunst in der Lage, zweckhaft zu sein, wo ihre Zwecklosigkeit anfängt.
Die bürgerliche Gesellschaft glaubt ihr Anrecht auf die Kunst — als ihre Mäzenin — geltend machen zu dürfen. Sie ist nicht Mäzenin, sie ist Schuldnerin; ihre Gemeinschaft mit der Kunst hört da auf, wo (wie bei Ibsen) sie sich spiegeln kann.
Die Kunst ist vorhanden nicht für, sondern gegen die Gesellschaft.
Die Kunst hat Ethik, Sitten, sie hat keine Moral. Nicht trotzdem, sondern deswegen. Die Gesellschaft hat die Moral in Besitz genommen, vergewaltigt und sie relativiert. Anständige Menschen müssen in den Augen der Gesellschaft unmoralisch sein; das heißt: nicht die Moral haben. Nicht aber: keine Moral.
Die bürgerliche Gesellschaft besteht aus Philistern; Philister sein heißt: nicht mit seiner Zeit gehen. Prinzipien zu haben ist Faulheit und Gedanken
losigkeit. Man muß soweit in seiner Prinzipienlosigkeit gehen, daß man nicht einmal das Prinzip hat, keine Prinzipien zu haben.
Es gibt für den künstlerisch Empfindenden nur das Prinzip des Momentes: die Intuition, die Erfassung der Situation.
Absolute Begriffe zu haben hat ein Recht das Genie; es unterscheidet sich vom genialen Menschen dadurch, daß dessen absolute Begriffe zeitlich beschränkt sind.
Gute Gedanken zu haben ist nur für geniale Menschen ein Glück: für die andern ist es die Tragik, die sie nicht empfinden: die Tragik zur per
manenten Verpflichtung. Der Genialen Tragik ist es, diese Pflicht — auch wider sich selbst — erfüllen zu können und zu müssen.


EUGEN STYX




Worte zur Revolution


Seele war wieder Sieg. Kletterten aus eiskalten Gewehrläufen Blumen heraus — warmdurchglühte Frühlingsboten; Symbole des Lebens. Neuer Sinn türmte Triumpfbogen: Willkommen ihr Menschen! Neuer Sinn ward euch aufgetan: Bewußtheit zu leben. Mit lächerlichen Rhythmen predigte man euch Siege. Aber das waren nur Siege des Befehls: Hunderttausend Geopferte. Jetzt — endlich — wollen Wir siegen! Sieg über den Mecha
nismus der Zeit fordert nicht euer Leben. An diesen Sieg müssen wir alle glauben. Es geht jetzt um die Herrschaft der Kultur und nicht um die Macht des Geldes. Nicht nur unser Leib — auch unsere Seele schreit in der Revolution nach Brot. Man hymnete euch die „Seele der Technik“.
Aber ihr selbst ward begraben in steinernen Särgen. Nicht Not — seelisches Beamtentum fraß das Brot eurer Seele. Es war eine tolle Rennjagd der Konkurenz in der Enteignung eures Lebens. Zuerst enteignet, dann weg
geworfen auf dem „Felde der Ehre“ — verschleppt in sinnlose Sphären. Das ist nun vorbei! Hört ihr mich, Brüder ? —: vorbei! Keine Forderung mehr, die euch „Seele“ enteignet. Kein Weg mehr des geistigen Elends vor uns . . . Wir wollen anfangen zu leben! Uns allen ist die höchste Aufgabe gestellt. Laßt euch nicht blenden durch billige Worte im flammen
den Streit. Werdet zum ersten Menschenstaat in der Welt! Besinnung,
Brüder, Besinnung! Glaubt nicht, wenn man euch sagt: „Dies wollten wir ja durch Sieg über den Feind erreichen“. Ihr werdet nur siegen, v/enn ihr euch selbst erreicht! Kein Befehl kann Euch Sieg über euch selber künden. Nicht wie Hunde wollen wir auf halbem Wege verenden. Wir wollen leben des Lebens Sinn! Wohlan denn: finden wir uns zu Häuf’! Lassen wir uns vom Geiste der Tat durchdringen! Stehen wir alle, die wir „Menschen“ sind, auf! Wir wollen beginnen! Wir selbst! Wir selbst!