DIE SATTEN UND DIE HUNGRIGEN




Auf der Suche nach Lebensmitteln


vom großen Sterben des deutschen Volkes, und wenn man ihn führt durch die luxuriösen Häuser und durch die Villenviertel der Reichshauptstadt, so wird er wohl meinen, er lebt in der besten aller Welten, und noch nie hätte man in Deutschland ein so glück liches Leben geführt. Der Mann, der das sagen würde, er hätte redit für die Reichen. Denn nie waren die Reichen steuerfreier, nie waren sie durch alle möglichen Gesetzesparagraphen vor dem Hunger derl anderen geschützt, wie sie es heute in Deutsch
land sind. Die Reichen und die Satten haben eine Hungeroffensive ohnegleichen gegen die ungeheure Mehrzahl des deutschen Volkes begonnen.
„Abbau der sozialen Gesetze!“ Das ist die Parole der großen bürgerlichen Philanthropen, der Herren um Krupp und Stinnes, die sich in Wohltätigkeitsvereinen, geführt von schönen Damen, nidit genug tun können. Und zu gleicher Zeit fällt ein Sozialgesetz nach dem anderen. Die Sozialgesetze, die ein Ergebnis eines sechzigjährigen Kampfes der deutschen Arbeiter darstellen, sie sind heute zu drei Viertel vollständig vernichtet und zu gleicher Zeit beträgt der Lohn mandies Kurzarbeiters ungefähr so viel wie ein Brot kostet.
Die Familie eines Kurzarbeiters kann in Deutschland nicht einmal ein ganzes Brot in der Woche verzehren. Von den Erwerbslosen gar nidit zu sprechen. Unter den Jugendlichen nur kommen in Berlin auf hundert Freikehrstellen 730 arbeitslose Jugendliche. Und die Arbeitenden? Ihr Sdiidcsal ist auch nidit besser. Die Preise der Nahrungsmittel, in Goldmark ausgedrüdct, sind viermal so hoch als vor dem Kriege, und die Löhne betragen vielfach kaum zwanzig Prozent der Einnahmen der Höhe der Vorkriegszeit. Das heißt, acht Zehntel des deutschen Volkes stehen vor dem Nidits, denn selbst die kleinen philanthropischen staatlichen Wohlfahrtseinrichtungen werden liquidiert. Die deutsche
Regierung ließ vor kurzem mitteilen, daß sämtliche Beihilfen zur Unterstützung von Wohlfahrtseinrichtungen seitens des Reidies aufhören müssen.
Aus Mangel an verfügbaren Mitteln sind bis zum heutigen Tage allein in Berlin geschlossen: achtzig Prozent der Krippen, vierzig Prozent der Kinderhorte und vierzig Prozent der Säuglings- und Kinderheime.


Eine Chronik des deutschen Hungers und Elendes — diese Chronik würde das schauerlichste Budi, ein Buch, das erzählen


würde, wie ein großes, ehemals sehr wohlhabendes Volk, ein Volk, das an der Spitze der fortgeschrittenen menschlichen Kultur stand, ein Volk, in dessen Mitte Tausende von Schornsteinen zum Himmel ragen, ein Volk, das industriell mit an der Spitze der Menschheit steht, vernichtet wird,
und verhungert, physisch ausgerottet wird.
Es sind ja, wie wir des öfteren hören konnten, bekanntlich doch 30 Prozent zuviel für Poincaré und auch für Stinnes.
Als die Könige von Spanien ihre Kolonnen nach Süd-Amerika
schickten, um die Silberminen auszubeuten und um Geld zu haben für die Erbfolgekriege in Europa, da starb ein Volk, es starben die Eingeborenen dort draußen jenseits des Ozeans. Und als die ursprüngliche Akkumulation, und als die große anfängliche Konkurrentin des Arbeiters, die Maschine, ihren Werdegang, ihren Siegeszug begann, da starb auch ein Volk. Es starben in Massen die Unglücklichen, die ärmsten der Armen in England und auf dem Kontinent. Und heute, heute, wo nach einem Krieg Jn friedlichen Zei
ten, nadi dem Ruhrkrieg, aus den Kassen des Deutschen Reiches sie
benhundert Gold- Millionen verschwanden, ver
schwanden in den Taschen der Be
sitzer der großen Konzerne, heute stirbt wieder ein Volk. Es stirbt und es verhungert das deutsche Volk,
Das alte Bild. Die Reichen wer
den reicher, und wenn heute ein Ausländer nach
Berlin kommt, ein Ausländer, dem man erzählt hat