LENIN ALS GESELLSCHAFTLICHE KRAFT




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ie Großen unter den Menschen sind geheimnisvoll verbunden mit der Kratt der Gesellschatt. Sie fühlen das Herz einer Gesellschatt, einer Nation oder einer Klasse in
ihrem Wesen und Leben; fühlen das, was in jenem Herzen lebt, sein Verlangen und Sehnen, sein stolzer Wille, sein
hohes Streben, aber auch sein Zaudern und Stocken und die Bewegung seiner Ebbe. Sie wissen, was dieses Herz aushalten kann ohne zusammenzubrechen.
Lenin empfand alles, was die Seele der russischen Arbeiter, und Bauern bewegte und er nahm Rücksicht darauf in seinen politischen Taten. Gewiß wurde seine Politik bestimmt durch die Einsicht in die Lage und vernunftsmäßiges Abschätzen der Umstände und Kräfte, jedoch nicht allein durch diese Motive, sondern auch durch unmittelbare Intuition — und weil Lenin die Gegensätze des äußersten Nationalismus und der äußersten Intuition in schöpferischer Tatkraft ver
band, deshalb war er der große Führer, den die proletarisch
sozialistische Revolution braucht. Sie kann nicht siegen ohne Einsicht, Vernunft, genaue Kenntnisse, Überlegung, Be
rechnung, — aber ebensowenig ohne mystische I lingerissenheit. Lenin verkörperte ihre beiden Seiten. Äußerlich war er ein großer elastischer Politiker, ohne Sentimentalität, ohne Pathos, ohne jede Rhetorik. Nie hat er die Leidenschaften
aufgepeitscht, nie versuchte er Hindernisse; immer wollte er überzeugen, appellierte an die Vernunft, er stützte sich auf Tatsachen und immer wieder auf Tatsachen. Jedoch das russische Volk, die Arbeiter und Bauernmassen wußten, daß unter der Würde der Nationalität, der vernunftsgemäßen, unendliche Tiefen sich auftaten, unergründliche Tiefen von leidenschaftlichem Mitgefühl, Liebe für die Unterdrückten und Geselligkeitssinn. Sie wußten, daß hinter dem scharfen, kühlen Blick der Augen die Vision sich auftat der neuen brüderlichen Welt, erblühend in genossenschaftlicher Arbeit,
— jener Welt, in die auch das tiefe Verlangen des Volkes führte. Lenin fühlte was in der Seele der Arbeiter und Bauern lebte bestimmter und klarer als diese selber. Er wußte, wann die Zeit gekommen war, den Sturm zu wagen
und wann es
Zeit war, den Angriff abzu
brechen
und den Rückzug zu befehlen.
Er hörte auf die Stimmung der Massen, er verstand ganz genau, was in ihnen vorging. Er irrte sich niemals; und die
jenigen unter seinen Freunden und Mitkämpfern, die anfänglich glaubten, es sei noch nicht Zeit für den großen Sturm und später glaubten, man sollte den Rückzug unterlassen, — sie haben eingesehen, daß er recht hatte und haben ihre Irrungen einge
standen. Er war der Größte unter ihnen, weil er am besten von allen wußte, was die Massen wollten und wozu sie imstande waren.
Wie alle Großen, die diese Kraft aus der Gesellschaft saugen, wird Lenin unter einem doppelten Aspekt weiterleben. Die Wissenschaft wird sich seiner bemächtigen und seinen Taten auf den Grund gehen, seine Erfolge und deren Grenzen aus den gesellschaftlichen Tatsachen erklären. Jedoch auch die schöpferische Phantasie wird sich seiner bemächtigen und ihre Arbeit an ihm verrichten. Er wird auferstehen in Ge
dichten und Dramen, in den plastischen Künsten und in der Musik. Er wird für kommende Geschlechter die Züge tragen des großen Helden der Menschheit, der ihr eigenes stolzes Wollen und unendliches Hoffen am reinsten verkörpert. Und er wird die Ziiüc tragen der neuen Klasse, welche daran geht, die Erde und das Leben zu erneuern.
Henriette Roland-Holst. Lenin in der Illegalität
als Konstantin Iwanow,
Arbeiter ln der Sestrovezker Gewehrfabrik,
Oktober 1917
Lenin Im Getpräch (Studie von N. Altmann)