LENIN ALS STAATSOBERHAUPT


Es hat in der neueren Geschichte keinen Denker gegeben, der
das Glück hatte, zum Lenker eines Staates zu werden, den er sich selbst erdachte und der fähig war, das von ihm errichtete soziale Gefüge neuen Kräften anzuvertrauen, die ihm selber ähnlich waren, weil sie sich von denselben Quellen des Denkens □ähren. Dieses Glück der Verwirklichung ist sicherlich für den Denker als Staatsmann nicht ein Glück im gewöhnlichen Sinne. Daß Lenin und Rußland über die Kluft hinweg, die den Weg dieser beiden durchaus zu trennen schien, zusammenkamen bis zur völligen Verschmelzung, wurde für Rußland wie für Lenin zu einem ungeheuren Schicksal. Dieser Mensch, den viele so genau zu kennen meinten, weil seine Ausdrucksweise immer für den ein
fachsten Arbeiter und Bauer verständlich blieb, war dennoch irgendwie unergründlich. An diesem Rußland, das so geheimnisvoll und kompliziert erschien, war eigentlich nichts defekt ge
worden als die Maschinerie des Zarismus mit allem, was dazu gehörte. Lenin erinnerte mich in seinem Aussehen und in seiner Ausdrucksweise immer an einen geschulten, klugen, energischen
ein Bündel Zeitungsausschnitte, von denen er zuweilen einen herauspflückte und wie eine Blume aus einem Bukett vor sich hinflattern ließ. Ich sah ihn am nächsten Mittag wieder, als der deutsche Gesandte Mirbach der fanatischen Offensive der linken Sozialrevolutionäre gegen Brest-Litowsk zum Opfer gefallen war. Lenin betrat zusammen mit Tsehitscherin, Worowski und Radek den düsteren Vorraum des Gesandtschaftsgebäudes, während draußen das Gewitter mit Platzregen wie eine Kanonade über Moskau dahinging. Die Lage war gefährlich. In dem Auto, das die Vertreter der Sowjetmacht brachte, lagen Handgranaten, man hatte sich den Weg durch ein Dutzend militärische Absperrungen bahnen müssen; noch wußte in diesem Augenblick kein Mensch mit Sicherheit, in wessen Händen sich eigentlich die Stadt befand; der Putsch war großzügig vorbereitet, und erst am nächsten Tage hatten die roten Truppen den Aufstand niedergeschlagen. Lenins Erscheinen in der deutschen Gesandtschaft genügte, um eine tragische politische Auswirkung der entstandenen Panik sofort aufzuheben. Seine Ruhe war überzeugend, sein Verhalten klar,
Auf dem II. Kongreß der K. I. 1922.
Mechaniker. Als die Maschine sich selbst zugrunde gerichtet katte, kam Lenin, riß kurz entschlossen den schlechten Kessel her«us, warf ihn zum alten Eisen und hämmerte den neuen. Eine Zeit lang hämmerte er herum, während noch das hilflose Wrack daneben lag, und manche Zuschauer scnüttelten die Köpfe. Dann kam der Augenblick, wo der Kessel eingesetzt werden konnte. Die
Maschine geht wieder. Man wäre heutel wo Lenin tot ist, versucht zu sagen; der neue Kessel, die neue Seele der Maschine, das ist Lenin selber.
Lenin hat in einer unerhörten Weise den Ruf des soziologischen and psychologischen Praktikers begründet auf dem Gebiete der Staatskunst, das er auf dem Wege über die Schriftstellerei und die Parteitaktik beschritt. Eine der letzten Photographien zeigt Lenin auf der Rednertribüne in einem der prunkvollen Säle des Kremls, die gedrungene Gestalt vorgebeugt, im Gesicht das unbewußte, bezaubernde Lächeln des Redeflusses, über den hochge
zogenen Brauen das Geheimnis des Gedankenvorrates, der sich in geordneten knappen Sätzen auf die aufmerksam Lauschenden entlädt. Eine fast epische Situation, und doch kaum anders als die dramatische Situation früherer Augenblicke, wo er ebenso ruhig im Mittelpunkte höchster elektrischer Spannungen stand.* Ich erinnere mich des Zweiten Allrussischen Rätekongresses im Mos
kauer Großen Theater. Dort sah man ihn auftauchen in der Mitte jener Männer und Frauen an dem historischen langen, rotgedeckten Konferenztisch unter der Bühnendekoration eines altrussischen Klosters. Als Lenin das Wort ergriff, bot er seine ganze
Person mit vollem Gleichmut dem leidenschaftlichen Ansturm der Zehntausende, die aus dem überfüllten Parkett und von den rotgoldenen Rängen herab die Augen auf ihn richteten und mit ge
ballten Fäusten Rechenschaft forderten wegen Brest-Litowsk. Lenin sprach, eine Hand in der Tasche seines Jacketts, in der andern
menschlich und von höchster Besinnung. Noch einmal später hörte ich Lenins Stimme, es war vor meiner Abreise. Ich hör noch diese Stimme durch das Telephon des Kreml, die ia da Zimmer im Hotel Metropol hinübersprach.
Viele Menschen, die der Person des „Alten“ viel näher stände als ich, werden sich dieser Stimme im Telephon erinnern. Es war die Stimme der ungeheuren Welle, die über die Erde hingeht. Der Mann, dessen Äußeres ebenso wie sein Leben bis zur Philistrositäi
anspruchslos war, war der Typus des einfachen Mannes, der das Steuer ergriffen hat und die höchste verantwortliche Arbeit als etwas Selbstverständliches und ohne eine Spur von Herrscherallüren leistet. Gegen Bewunderung war er fast verächtlich. Vor tausend erschütternden Einzelschicksalen umbrandet, im Mittel punkt begeisterter, heroischer Taten, blutiger Opfer und uner
hörter Einblicke in die Zusammenhänge und Fragwürdigkeiten des Geschehens, zwang er den Staat, den er vorfand, in den Ent
wicklungsprozeß der ganzen Menschheit und wagte das kühnste Experiment, das je einem Staatsmann gestellt werden konnte
Dieser Mann holte nicht wie Napoleon im Augenblick der Macht die verstaubten Attribute des Herrschertums aus der Rumpel
kammer. Seine Symbole waren primitiv und gewaltig, Hammer und Sichel; den neuen Typus des herrschenden Menschen, der, prolctaiischen führte er herauf, seiner Bestimmung zu. Was von ihm ausging und so stark auf die Phantasie von Millionen Menschen wirkte, war nicht eine einzige Äußerlichkeit für das Auge. Er brachte vielmehr gerade durch diese Abwesenheit alles äußerlich Phantastischen den Massen zum Bewußtsein, was an Änderung scheinbar unabänderlicher Zustände möglich ist. In einer Welt, in der ein Lenin möglich ist, ist noch mehr des Ungeheuren, Unerwarteten möglich. Alfons Paquet.