Sonderlingoder Genie?
Diese Frage werden Sie, verehrter Leser, später selbst beantworten. Hören Sie also die Geschichte eines Kaufmannes.
Er lebt in Wien. Vor sieben Jahren hatte er ein gut gehendes Spezial-Detailgeschäft. Ja, damals ging alles rei
bungslos. Damals interessierte ihn nichts anderes als die tägliche Höhe des Umsatzes, damals konnte er leicht zufrieden sein.
Ohne daß es unser Kaufmann merkte, ganz langsam, änderte sich die Lage. Die Konkurrenz war nicht untätig geblieben. Kunden blieben aus. Ähnliche Spezialgeschäfte
tauchten auf. An einem Juniabend des Jahres 1935 besah er sich wieder die Tageslosung. Was sollte er mit dem
bißchen Geld zuerst anfangen? So eine Situation macht Jeden Kaufmann irgendwie krank.
Eine schlaflose Nacht brachte ihn auf eine Idee. Zeitlich am nächsten Morgen klingelte das Telephon bei einem Werbeberater. Bereits am Nachmittag sperrten sich zwei Männer in das Chefzimmer ein.
Zuerst war die Stimmung in dem freiwilligen Gefängnis gar nicht gemütlich. Die Ziffern und Zahlen zeigten ganz allgemein bloß die Tatsache des Niederganges. Die Ur
sachen standen aber nicht in den Zahlen. Einer begann zu fragen. Er fragte immer mehr. Bald sah man die Situation klarer. Die Stimmung besserte sich zusehends. Es war spät geworden. Man schied für heute. Die Frau des Kaufmannes konnte sich die gute Laune ihres Mannes nicht erklären. Er aber lächelte nur in sich hinein. Ihr war es recht.
Am nächsten Tage behaupteten die Angestellten, der Chef sei verrückt geworden. Da gab es für jeden eine Arbeit, die zunächst höchst überflüssig und sinnlos er
schien. Weil aber der Chef selbst mit anpackte, alles kon
trollierte, ließ sich nichts dagegen tun. Bald fanden sie an der neuen Arbeit Spaß, zumal der Chef mit Anerkennungen, ja selbst mit kleinen Aufmerksamkeiten und Geschenken nicht sparte.
Zunächst wurden alte Lieferscheine und Kassablocks hervorgeholt. Jeder bekam einen Stoß. Er mußte die Numen und Adressen — soweit feststellbar — auf Karten schrei
ben. Dazu kam das Datum des Einkaufes der Artikel und schließlich der Preis. Dann wurden die Karten, bzw. die Anschriften auf ihre Richtigkeit geprüft. Adrefi- und Telephonbuch wurden herangezogen, in Zweifelsfällen der Ge
schäftsdiener, der die Lieferungen austrug, gefragt oder in der Buchhaltung nachgeforscht.
Gleichzeitig begann der Chef — wieder beispielgebend — sich nach den Adressen der Käufer im Laden zu erkundi
gen. Das Verkaufspersonal sah bald, daß das dem Chef in den allermeisten Fällen ganz leicht gelang. Wenn es einmal nicht gelang, dann nahm man das einfach hin. Besser war es, 70 oder 80% Anschriften zu erhalten als
gar keine. Der Chef notierte gleich die Adresse auf dem Kassablock. Ob Schreibweise und Adresse stimmen, das
wurde später, wieder an Hand der Adreßbücher oder bei Lieferungen, nachgeprüft. Das Personal folgte dem Bei
spiele des Chefs. In kurzer Zeit waren alle für den „Sport“ gewonnen, zumal kleine Prämien für diejenigen, welche den höchsten „Prozentsatz“ erreichten, ausgeworfen wurden. Bei neuerlichen Einkäufen desselben Kunden wurde
dieser Einkauf wieder auf der Kunden-Karteikarte vermerkt.
In wenigen Wochen lag eine Kundenkartei vor, die sich sehen lassen konnte. Jetzt erst begann eine viel inter
essantere Arbeit, auf die sich der Chef persönlich stürzte. Die Karten allein, säuberlich beschrieben, sind nur totes Kapital. Früchte trägt dieses Kapital erst, wenn man ihm Leben einhaucht. Unser Kaufmann saß täglich zumindest eine Stunde über seiner Kundenkartei. Da er in den Sommermonaten stille Saison hatte, legte er damit den Grundstock für ein recht erfolgversprechendes Herbstgeschäft.
Als ein Geschäftskollege im nahen Stammcafé von der Sammlerwut, von der gering geschätzten Arbeit unseres Kaufmannes erfuhr, erklärte er ihn für einen Sonderling. Unser Kaufmann aber lächelte. Er wußte es besser.
Dann entstanden Statistiken, Auszüge aus seiner Kundenkartei. Er fand eine Menge Kunden, die nur einmal und nie wieder bei ihm gekauft hatten. Warum? Diese Frage
wurde durch sehr sorgfältige, gewissenhafte Untersuchung geklärt. Da waren zunächst einmal die sogenannten „Laufkunden“. Sein Geschäft lag in einer vielbesuchten Ge
schäftsstraße. Dort geht man hin, wenn man etwas sucht. Findet man es zufällig in einem Schaufenster, kauft man es. Diese Kunden ließ man bisher laufen, statt sie zu Stammkunden zu erziehen. Das hatte er also falsch gemacht. Da waren ferner viele Provinzkunden. Diese kauf
ten bei ihm, weil sein Geschäft nahe dem großen Bahnhof lag. Er sagte sich: „Diese Leute kommen doch öfters nach Wien. Also muß ich etwas tun, damit sie auch öfters mein Geschäft aufsuchen. Außerdem aber könnten diese Kunden doch auch gewisse Artikel durch die Post beziehen.“ Also tat er etwas. Werbebriefe, interessante Postkarten, Klein
prospekte hatten Erfolg. Das konnte er ganz genau wieder
feststellen, weil seine Kartei über jeden einzelnen Verkauf und über jeden Kunden einen genauen Bericht lieferte.
Schwieriger war es, die ausgebliebenen Wiener Kunden ins Geschäft zu bringen. Die Konkurrenz war groß und mächtig. Viele Inserate, kostspielige Plakate der Konkurrenz hatten es erreicht, daß man das Geschäft des Kaufmannes vergessen hatte. Er wußte heute:
Die beste Reklame für die eigene Konkurrenz besteht darin, daß inan selbst nichts macht, daß man untätig zusieht, wie die Kunden das eigene Unternehmen immer mehr vergessen. Das ist kaufmännischer Selbstmord!
Er war sich darüber klar, daß man mit Schundpreisen, mit Schundwaren, das Publikum auf die Dauer nicht festhalten kann. Er wollte dem Qualitätsgedanken treu bleiben. Das war er sich selbst, dem guten ltuf seines Hauses, dem Vertrauen seiner Kunden schuldig.
Also begann seine wohlüberlegte, vorsichtige Aufklärungsarbeit durch Briefe, Preislisten, Prospekte usw.
Verwechsle nicht einen Geschäftsbesuch mit einem Privatbesuch.