Heinar Schilling. Form und Gestaltung.


Eine Entgegnung.
1.
An den Ausgangspunkt einer jeden Betrachtung der Kunst stelle man das Kriterium und die Perspektive, von denen aus man Kunstwerke oder Künstler betrachten will. Entweder Wertung des historisch Gewordenen oder Versuch einer abso
luten Kritik vermögen dem Betrachter neuer Kunstwerke einen gewissen Anhalt für seine Stellungnahme zu geben. Denn das subjective Urteil, der Geschmack, versagt oder reagiert nicht gegenüber dem Vielfachen, Komplizierten oder gekünstelt Einfachen heutiger Kunstwerke.
2.
Wertung des historisch Gewordenen, also Kunstgeschichte und Kunstpädagogik im prak
tischen Sinne ist einer der Ausgangspunkte moderner Kritik. Dem gegenüber betont jeder Künstler mit Recht, daß nur ihm, dem Schaffen
den, eine Möglichkeit der Beurteilung gegeben sei, inwieweit das Kunstwerk der inneren Vision adaequat und somit ein wahres Kunstwerk sei. Er lehnt deshalb jeden Vergleich von vornherein ab, und ist geneigt, auch auf technischem Gebiet ein historisches Werden zu negieren, nur um nicht irgendwelche Abhängigkeiten von Relativem nachgewiesen zu bekommen. Denn er gibt vor,, un
mittelbar aus positivster Erkenntnis, also absolut, das innerlich Notwendige zum Niederschlag zu bringen. Indem er das innere und äußere Leben
auf die vermeintliche Ebene seiner Persönlichkeit projiziert, entsteht für ihn die Vision, und, falls er hemmungslos schafft, das Kunstwerk, Er wird
also das Kunstwerk als einen Teil seiner selbst ansehen, ganz im Gegensatz zur bisherigen Methode, die Kunst und Künstler zu trennen ver
suchte. Auch wird er solange Kritik abzulehnen berechtigt sein, wie der Kritiker sein Eindringen
in die Gedankenwelt und sein Verständnis für die Lebensart des Künst!ers nicht dargetan hat.
Eine historische Wertung scheint also durch die Stellungnahme der Künstler unmöglich gemacht, die ja als die einzigen wahrhaft Mitschwingenden die Kunst kritisieren dürfen, ohne sich wie die Mehrzahl unsrer Katheder- und Presseaestheten
aus Blamagefurcht vor kommenden Geschlechtern und Urteilen lächerlich zu machen.
3.
Der Versuch einer absoluten Kritik, die vom Wert der Kunst an sich und vom Gefühl „schön oder unschön“ an sich ausgeht, ist heutzutage erschwert durch den Radikalismus unsrer Kunst
richtungen. Kubismus und Simultanismus sind
vom normalen Nervensystem nicht unmittelbar aufzufassen, vielmehr muß sich unser an Bisherigem geschultes Aufnahmevermögen durch ge
eignete Einstellung erweitern, so wie sich etwa der Alltagsmensch an Aesthetik nur mit größter Mühe gewöhnt, trotzdem er doch von Natur die nahezu gleichen Geisteskräfte wie der Durchschnittskünstler mitbringt. Neue Kraft muß er
lernt, d. h. neu erfühlt werden, schon weil sie Symptom von Neustem, Zukünftigem, dem Gegen
wartsmenschen zunächst Fremdem ist. Man ist da zuerst angewiesen auf ein zergliederndes Verstehen von Einzelheiten, demzuliebe man den Gesamtrythmos, oft den Hauptwert des Kunst
werkes, aufgeben muß. Wenn es trotzdem oft möglich ist zum starken Eindruck zu gelangen,
so ist der Grund hierzu die überzeugende Kraft relativ wirksamer, also überkommener Kunstmittel. Die Linie als Ausdruck des Gefühls, der Wortrythmos als absoluter Ausdruck gehören hierher.
Absolute Kritik müßte ausgehen von ganz persönlichem Mitschwingen, und dem Bedürfnis des Nachfühlens beim Betrachten des Kunstwerks. Aufzuzeichnen, inwieweit dies schon heute möglich ist, in Aufgabe dieser Darlegungen.
4.
War eine historische Betrachtungsweise unmöglich, weil die neue Kunst vorgibt, jenseits aller Tradition und aller bisherigen Kunstmaximen zu schaffen, so ist eine absolute Kritik aus den gleichen Gründen ungeheuer erschwert. Sie muß auf jeden Vergleich mit Bisherigem verzichten, (eine fast utopische Forderung!) sie muß ferner die Kunstwerke um den schaffenden Künstler als dessen Lebensausdruck gruppieren, und nicht zuletzt den großen, rein gedanklichen Einschlag aller neuen Kunst in Rechnung ziehen. (Rück
sicht auf zuviel Reflexion, sie ist das Beste!) Als wesentlichster Angriffspunkt bleibt die unmittelbar wirksame, jedem ernsten Betrachter sofort erkennbare Idee.
Die Idee neuer Kunst ist nicht zufällig eine Absage an den Zeitgeist. In unsrer Zeit der tiefsten Menschheitserniedrigung und Massenvergewaltigung ist der Ruf zum Menschen, der Aufruf zur Menschlichkeit von vornherein eine Rich
tung gegen die Zeit. Alle neue Kunst ist aktivistisch, und bestrebt, das Brudertum der Menschen neu zu erwecken und die innerste Gemeinschaft er
stehen zu lassen, um jenseits aller Zeit die Idee des Absoluten, des Menschlichen und Guten zu verwirklichen.
5.
Wer nicht allen innern Anteil an den Geschehnissen der Völkergeschichte von sich wies als eine für ihn belanglose Angelegenheit; wer nicht unversehrt und unberührt aus der Barbarei und den Greueln dieses Mordens zur Kultur, die es nur für die Menschheit gibt, zurückkehrt, der ist
für die Gestaltung der Zukunft verloren. Die heutige Jugend — bei neuer Kunst handelt es sich immer nur um die Jugend — wendete sich längst ab von den Maximen, die das bisherige Weltbild schufen und seinen Zusammenbruch zur Folge hatten.
Wir sind bestrebt, die Welt nach den Gesetzen unserer Seele zu gestalten, und sehen in der Kunst ein Mittel, unser Seelenleben zu mani
festieren , d. h. öffentlich und programmatisch wirksam zu machen.
Es kommt hierbei, wie oben gesagt, auf das ganz persönliche Mitschwingen an, das die neue Kunst zu erwecken bestrebt ist. Dieses Mit
schwingen sollte, wenn es zu absoluter Kritik führen soll, vom Bedürfnis des Nachfühlens aus
gehen ; es wäre also nötig, daß das Kunstwerk das Innere des Menschen an sich und aus sich heraus anrührt.
Die neue Kunst ist nun das Mittel, d. h. die Erscheinungsform unseres Willens zur Weltgestal
tung. Das sagt nicht etwa, daß Kunst Zweck oder Zweckmittel (Stufe in einer Entwicklung) sei.
Seit hart pour l’art, dieser Erkenntnis, durch die alle wahre Kunst sich durchgerungen haben muß, um absolut wirksam zu sein, gibt es nur noch Selbstzweck in der Kunst, da Kunst nicht Dar
stellung, sondern Gestaltung ist. Hiermit kommen wir auf die Frage der Gestaltung überhaupt, d. h. auf das Angerührtwerden des innern Menschen durch die Form des Kunstwerks.
6.
Jede neue Kunst wird bei ihrem ersten Auftreten, namentlich wenn sie eine Revolution von Formen mit sich bringt, mißdeutet und mißver
standen. Schärfer als bei allen bisherigen Umwälzungen, die das .neuerungssüchtige Kunst
publikum bisher mit modehafter Reklamewut mitzumachen liebte, wendete sich beim Auftreten expressionistischer Graphik (bis zum Kubismus) die Entrüstung der Kunstverständigen gegen die Neuerung. Man warf der scheinbar formlosen Dar
stellung Mangel an Gestaltung und Ueberzeugungskraft vor, zuletzt scheute man sich sogar nicht, ihr bewußte Irreführung und Reklamemache wo nicht gar künstlerischen Betrug unterzusebieben. Man betonte, daß der im Augenblick herrschende Impressionismus, der die Formen zu Eindrucks
bildern zu erniedrigen bestrebt war, wenigstens noch in seinen Bestrebungen verständlich sei, während die neue vermeintliche Kunst nur im Abstrusen und gemacht Originellen neue Betätigungsgebiete suche.
Gewiß mag Originalitätssucht beim Entstehen dieser wie jeder Bewegung mitgespielt haben, — (ich persönlich bie sogar der Ansicht, daß neun Zehntel der heutigen expressionistischen Produk
tion nicht innerlich bedingt und notwendig, sondern affektiert gemacht oder nachgemacht sind) — immerhin war im Augenblick des Ent
stehens der neuen Bewegung der Impressionismus in sich derart erschöpft und technisch erstarrt,
daß nur bewußte Opposition einen Foitschritt bringen konnte. Es wäre gänzlich verfehlt ge
wesen, wenn schon damals der Versuch einer brückenschlagenden Anknüpfung gemacht worden wäre, die Bewegung wäre im Keime erstickt und vom allmächtigen Impressionismus aufgesogen
worden. Wie ich an anderer Stelle darlegte, wird meines Erachtens die Zeit mit dem nötigen Ausgleich auch neue Tradition und neue Klassik bringen.
7.
Die Formen der neuen Kunst — um diesen Hauptpunkt meines Themas hier einzuführen — waren und sind bedingt durch diese Opposition. Es galt, aus Innerstem heraus zu gestalten, man verschmähte die bisher wirksamen Mittel und versuchte, — zunächst vergebens — mit den auf abstrakt - gedanklichen Wege gefundenen neuen Formen das Nachfühlen und Mitschwingen zu erzeugen.
Das Neue dieser Methode war, daß man das Kunstwerk, psychologisch bedingt aus dem Wesen der Schaffenden, als die für dessen rein geistige Formerkenntnis maßgebliche Urform an sich hinstellte. Die geistige und abstrakte Ent
wicklung der Theorie ging nach kurzem so weit, daß von sinnlich wahrnehmbarer Form keine Rede mehr sein konnte (Picasso). Der gleiche Vorgang führte zur zerrissensten Worttechnik, (Stramm, Schreyer) die selbst auf den von Arno Holz entdeckten, durchaus expressionistischen Wortrythmus verzichtete.
Dieser Radikalismus hat dem Expressionismus sehr geschadet. Das wahrhaft große dieser Be
wegung, die Ausdruck und wahrste Expression
der neuen aufkeimenden Zeit sein wollte, wurdelächerlich gemacht durch dilettantische Spielereien, die höchstens interessante Experimente blieben, die man keinesfalls der Oeffentlichkeit hätte vorsetzen dürfen.
Die weitere Entwicklung hat auch gezeigt, daß man von den Extremen sehr schnell zur
Mäßigung zurückkehrt. Seit Anfang 1918 ist das erwachende Formbewußtsein in Graphik und Dichtung bestrebt, auch mit allgemein verständ
lichen Mitteln zu wirken.; Die Sucht, nichts
zweimal oder gar nachzubilden, wird hoffentlich von der Erkenntnis verdrängt werden, daß in der Hand einer starken Persönlichkeit die Wiederauf
nahme eines künstlerischen Gedankens sehr gut auch zu einer die aufgenommene Anregung über
ragenden Weiterbildung der Gestaltung führen kann. So können wir für unsere Zeit den erstrebten einheitlichen, Stil, den Ausdruck der heutigen Kultur in künstlerisch gebundener Geschlossenheit erreichen.
Immerhin istder augenblicklicheEntwicklungsstand der expressionisten Form sehr wohl geeignet, das oben mehrfach als Grundlage abso
luter Kritik geforderte Mitschwingen zu erzeugen. Man vergegenwärtige sich die heutige Methode
der Gefühlsdarstellung, man betrachte sodann die an sich wohl ganz unverständlichen Kunstwerke unvoreingenommen, und man wird meist oder oft spüren, daß eine direkte Welle der Empfindung vom Kunstwerk zum Beschauer flutet. Dieses ist
aber der beabsichtigte Erfolg. Das Kunstwerk bleibt Ding an sich, entstanden aus der hem
mungslos durch den Künstler durchgegangenen, visionär geschauten Urform. Der Künstler ver
sucht — namentlich in der Graphik — den inneren Ausdruck, die EXPRESSION des dargestellten Dinges auf die Fläche zu bringen und im Beschauer die gleichen Gefühlskomplexe zu
erregen. Der Beschauer steht also vor dem
Kunstwerk wie vor einem Spiegel, er wird das hineinlegen und darin suchen, was er im Darge
stellten seinem Empfinden nach vermutet. It is the spectator and not life — man könnte ebenso
sagen: und nicht die Dinge — that art really mirrors (O. Wilde).
8.
Rein äußerlich genommen überschreitet die heutige „Form“ bei weitem den bisher geläufigen Begriff „Form“. Das Zurückgehen auf visionäre Eindrücke, die nachgebildet, nachgeahnt oder deren Wiedergabe oder Wiedererregung versucht
wird, bringt notwendigerweise einen Verzicht auf die menschlich - verständlichen Darstellungen mit sich.
Man sollte sich dadurch nicht beirren lassen. Der Kern bleibt die absolute Gestalt, die durch rein gedankliches, wohl abgewogenes System gefunden wurde. Die feinste Zergliederung psycho
logischer Wirkungen und das Ausdrücken der Zusammenhänge zwischen der Idee des Kunstwerks, die, geboren in der Phantasie des Künstlers, in
der Seele des Beschauers wiederklingt, und dem Kunstwerk selbst führten dazu, daß man zu einer Scheinform, zu einem Schema statt zu einem organischen Gebilde kam.
Außerdem führte das Ueberschreiten der Gebiete der Künste, das Ineinanderarbeiten von Musik und Dichtung (Rythmus, Wortklang), von Form und Farbe und Form und Jdee (Philosophie), von Jdee und Gedanke und schließlich von Ge
danke und Dichtung zu einem Durcheinander von wesensfremden Dingen. Die Tatsache, daß fast jedes heutige Kunstwerk zu keinem der her
kömmlichen Kunstgesetze paßt, gibt zu denken. Die Vermutung, daß diese Formüberschreitung zufällig oder notwendig sei, wird entkräftet durch die starke Wirkung der wenigen expressionistischen Kunstwerke, die die strenge Form wahrten.
Man sieht hierin den prinzipiellen Hauptfehler der neuen Kunst, und begründet dies Ver
wischen der inneren «Grenzen der Kunst, mit dem kein Erweitern der äußeren Hand in Hand gehe, im Mangel. an künstlerischer Gestaltungskraft.
Man sagt, daß es Ziel des Kunstwerks sei, die Vision dem Beschauer möglicht hemmungslos zu übermitteln und daß derjenige der größere Künstler sei, der die höchste Virtuosität der Gestaltung habe, nicht aber der, der visionär am stärksten empfinde.
Demgegenüber muß ich betonen, was ich schon an anderer Stelle mehrfach sagte: auf Wollen, nicht auf Können kommt es an. Können ist Angelegenheit der Epigonen, da es technisch angeeignete Fertigkeit ist. Die Bahnbrechenden
bedürfen vor allem eines großen Willens zum Ziel. Aller neuen Kunst wird man das große Wollen anmerken; man mag sie ruhig dilettan
tisch schelten, geniale Kunst kann dilettantisch sein.
9.
Somit wären wir über die unzulängliche Form zur Frage der unzulänglichen Gestaltungs
kraft der gegenwärtigen Kunst gelangt. Schöne Künste nennt man noch heute die bildenden und literarischen, ich will mit dieser Paraphrase mehr den Hauptwert betonen als ein Kriterium geben. Nun wirft man uns, wie schon vielen vorange
gangenen Kunstumwälzungen aber vor, die neue Kunst sei unschön, also keine Kunst. Ein etwas unlogischer, aber immerhin schwerwiegender Vor
wurf. Ist man in der Begründung dieses Tadels gewissenhaft, so weist man auf die scheinbare Unnotwendigkeit des Bruches mit den herkömm
lichen Kunstmitteln hin und betont, daß die modernen Kunstwerke nicht zwingend seien. Dem gegenüber muß auf die Genesis des einzelnen Kunstwerks hingewiesen werden.