Originalholzschnitt von César Klein.
Denken war für ihn gleichbedeutend mit Sichwundern geworden. Warum schlug man hier die Frauen nicht? Daß er seine Katja prügeln würde, wenn er nach Hause käme, war doch selbstver
ständlich und die Mutter, — nun prügeln nicht, aber doch anschreien, damit sie ihm die Stiefel auszöge, Qwas brächte, ihm Platz machte, dem
Mann im Haus, den besten Platz sogar am Ofen, wenn sein ältester Bruder nicht da war. Sonst hatte ihn der. Das verstand sich von selbst. Und wenn Sawienko im Denken war, dann wunderte er sich auch, daß die Männer hier untereinander so seltsam waren. Nie küßten sie sich. Immer dachten sie heimlich noch etwas anderes als das , was offenbar war, bei der Arbeit zum Beispiel,
wie einer es dem anderen zuvortun könnte, reicher werden, klüger, geschickter, rascher fertig, rede
gewandter. Fast jeder hatte einen Vorgesetzten und war zugleich Vorgesetzter eines Andern ; aber anstatt ihn zu lieben und zu ehren, haßte jeder den seinen. Mein Gott, was hatten sie für ein Vieh von Verwalter daheim in seinem Dorf, aber wenn er kam, freute man sich doch. Es war eine Ehre, wenn es auch immer Geld kostete oder Frondienste oder gar Prügel, aber es war doch der Herr Verwalter, und man küßte ihm die Hand. Zu Ostern war er ein Bruder, und es war doch so schön, einen so hochgestellten Herrn Verwalter „Bruder in Christo“ nennen zu dürfen.
Hier — der Gedanke, der Kutscher könnte den Herrn Steinbruchsverwaltef „Bruder“ nennen!
— Der Steinbruchsverwaiter war der Oheim der jungen Herrin. Man zitterte, wenn er einen nur ansah, und man verstand nie ein Wort von dem,
was er sagte. Sawienko wenigstens nicht. Die Anderen zuckten die Achseln und sagten: „Ge
wäsch!“ Kein Mensch küßte ihm die Hand. Er hatte alle Macht, aber trotzdem fürchtete er sich
vor seinen eigenen Untergebenen. Es gab natürlich auch Bettler im Lande wie daheim ja auch. Aber daheim baten die Bettler wirklich und be
kamen um Christi Willen manchmal etwas und manchmal nichts. Hier baten sie drohend, und der Gebende wägte lange, fragte immer erst alles
Mögliche, dann gab er nach Sawienkos Ansicht viel zu viel, aber mit einem bösen Gesicht, als wolle er sagen: „Na wart’ nur, das tränk’ ich dir noch einmal ein!“
Darüber konnte Sawienko stundenlang grübeln, und meist des Abends, wenn er auf seinen Stroh
sack kroch, sodaß er das Beten darüber ganz vergaß, auch wenn er sich’s am Tage noch so fest vorgenommen hatte.
Zweieinhalb Jahre hatte Sawienko nun schon auf dem Steinbruch gelebt. Wenn der militärische Gefangeneninspizient fragte: „Wie geht es dir?“ antwortete Sawienko, „gut“, aus tiefster Seele. Und doch schüttelte der den Kopf. Denn Sawienko sah elend aus, wurde immer magerer trotz des vielen Essens und fror auch immer. Wie lächer
lich kam ihm das nun wieder vor. Daheim in Rußland war es doch Winters so furchtbar viel
kälter, und er hatte in seinen Lumpen niemals gefroren. Einmal kam ein Arzt und fragte ihn, ob er in die Schweiz wollte. Da sagte er: „Nein, entweder nach Hause oder hier bleiben“. So ließen sie ihn und waren weiter gut zu ihm, wenn er auch noch so faul war, manchmal zu faul überhaupt zum Aufstehen.
Und daß ihn dafür niemand züchtigte, fand er zum Totlachen. Dann schämte er sich vor sich selber und stand wieder auf. Aber viel
arbeitete er nicht mehr. Wenn er anting zu frieren und zu zittern, schickten sie ihn von selber wieder weg von der Arbeit in die Küche oder auf seinen Strohsack. Frau Sedlacek pflegte ihn. Nun nach
und nach hatte er gelernt zu verstehen, warum sie trotz ihrer Sauberkeit doch eine arme Frau war. Ein Sohn war in Italien gefallen, einer in Mazedonien, und der dritte war in russischer Gefangenschaft. Die Frau war eine Deutsche und
ihr Mann ein Tschech. Der Vaterschmerz hatte ihn rasend gemacht, und trauernd warf er der Frau den Tod der Söhne vor. „Ihr mit euerm verfluchten deutschen Pflichtgefühl. Wären sie doch übergelaufen ! Du bist dran schuld.“ Was er ihr vorwarf, war ihr Trost, ihr einziger, heimlicher. Sie hatten ihre Pflicht getan . . . aber, . . . !
Die Gerüchte von einem möglichen Waffenstillstand drangen auch bis in den stillen Steinbruch. —
„Mütterchen,“ sagte Sawienko zu der Frau, als sie ihm die Suppe brachte, „helft mir doch,
mein Atem geht, so kurz, so . . . .“ Sie richtete ihn ein wenig auf. Da streichelte er ihre Hand mit seiner abgezehrten, schmutzigbraunen. „Mütter
chen, wenn Frieden wird, kommt dein Sohn auch wieder heim, wie ich.“
Da übermannte es sie. „Wie du, wie du, Sawienko? Wirst du heimkommen? Wenn er nun so ist wie du, mein Sohn?“ schrie sie. Seine Augen weideten sich. Daran hatte er noch nicht gedacht. Aber er begriff sofort „Sterben, hier?“ keuchte er. Gerade ging die Sonne unter und tauchte die beschienenen Berge in ein Meer von Purpur. Krampfhaft richtete er sich immer weiter auf, nach Atem ringend, um zu schauen. Sie stützte ihn mit aller Kraft. Dankbar lehnte er seinen Kopf an ihre Brust.
„Mein Mütterchen, wird deinen Sohn so . . .,“ hauchte er mit dem Letzten und dann fiel er schwer zurück. — Sie aber warf sich mit einem furchtbaren Aufschrei über den Toten und bedeckte ihn mit wütenden Mutterküssen.---
Denken war für ihn gleichbedeutend mit Sichwundern geworden. Warum schlug man hier die Frauen nicht? Daß er seine Katja prügeln würde, wenn er nach Hause käme, war doch selbstver
ständlich und die Mutter, — nun prügeln nicht, aber doch anschreien, damit sie ihm die Stiefel auszöge, Qwas brächte, ihm Platz machte, dem
Mann im Haus, den besten Platz sogar am Ofen, wenn sein ältester Bruder nicht da war. Sonst hatte ihn der. Das verstand sich von selbst. Und wenn Sawienko im Denken war, dann wunderte er sich auch, daß die Männer hier untereinander so seltsam waren. Nie küßten sie sich. Immer dachten sie heimlich noch etwas anderes als das , was offenbar war, bei der Arbeit zum Beispiel,
wie einer es dem anderen zuvortun könnte, reicher werden, klüger, geschickter, rascher fertig, rede
gewandter. Fast jeder hatte einen Vorgesetzten und war zugleich Vorgesetzter eines Andern ; aber anstatt ihn zu lieben und zu ehren, haßte jeder den seinen. Mein Gott, was hatten sie für ein Vieh von Verwalter daheim in seinem Dorf, aber wenn er kam, freute man sich doch. Es war eine Ehre, wenn es auch immer Geld kostete oder Frondienste oder gar Prügel, aber es war doch der Herr Verwalter, und man küßte ihm die Hand. Zu Ostern war er ein Bruder, und es war doch so schön, einen so hochgestellten Herrn Verwalter „Bruder in Christo“ nennen zu dürfen.
Hier — der Gedanke, der Kutscher könnte den Herrn Steinbruchsverwaltef „Bruder“ nennen!
— Der Steinbruchsverwaiter war der Oheim der jungen Herrin. Man zitterte, wenn er einen nur ansah, und man verstand nie ein Wort von dem,
was er sagte. Sawienko wenigstens nicht. Die Anderen zuckten die Achseln und sagten: „Ge
wäsch!“ Kein Mensch küßte ihm die Hand. Er hatte alle Macht, aber trotzdem fürchtete er sich
vor seinen eigenen Untergebenen. Es gab natürlich auch Bettler im Lande wie daheim ja auch. Aber daheim baten die Bettler wirklich und be
kamen um Christi Willen manchmal etwas und manchmal nichts. Hier baten sie drohend, und der Gebende wägte lange, fragte immer erst alles
Mögliche, dann gab er nach Sawienkos Ansicht viel zu viel, aber mit einem bösen Gesicht, als wolle er sagen: „Na wart’ nur, das tränk’ ich dir noch einmal ein!“
Darüber konnte Sawienko stundenlang grübeln, und meist des Abends, wenn er auf seinen Stroh
sack kroch, sodaß er das Beten darüber ganz vergaß, auch wenn er sich’s am Tage noch so fest vorgenommen hatte.
Zweieinhalb Jahre hatte Sawienko nun schon auf dem Steinbruch gelebt. Wenn der militärische Gefangeneninspizient fragte: „Wie geht es dir?“ antwortete Sawienko, „gut“, aus tiefster Seele. Und doch schüttelte der den Kopf. Denn Sawienko sah elend aus, wurde immer magerer trotz des vielen Essens und fror auch immer. Wie lächer
lich kam ihm das nun wieder vor. Daheim in Rußland war es doch Winters so furchtbar viel
kälter, und er hatte in seinen Lumpen niemals gefroren. Einmal kam ein Arzt und fragte ihn, ob er in die Schweiz wollte. Da sagte er: „Nein, entweder nach Hause oder hier bleiben“. So ließen sie ihn und waren weiter gut zu ihm, wenn er auch noch so faul war, manchmal zu faul überhaupt zum Aufstehen.
Und daß ihn dafür niemand züchtigte, fand er zum Totlachen. Dann schämte er sich vor sich selber und stand wieder auf. Aber viel
arbeitete er nicht mehr. Wenn er anting zu frieren und zu zittern, schickten sie ihn von selber wieder weg von der Arbeit in die Küche oder auf seinen Strohsack. Frau Sedlacek pflegte ihn. Nun nach
und nach hatte er gelernt zu verstehen, warum sie trotz ihrer Sauberkeit doch eine arme Frau war. Ein Sohn war in Italien gefallen, einer in Mazedonien, und der dritte war in russischer Gefangenschaft. Die Frau war eine Deutsche und
ihr Mann ein Tschech. Der Vaterschmerz hatte ihn rasend gemacht, und trauernd warf er der Frau den Tod der Söhne vor. „Ihr mit euerm verfluchten deutschen Pflichtgefühl. Wären sie doch übergelaufen ! Du bist dran schuld.“ Was er ihr vorwarf, war ihr Trost, ihr einziger, heimlicher. Sie hatten ihre Pflicht getan . . . aber, . . . !
Die Gerüchte von einem möglichen Waffenstillstand drangen auch bis in den stillen Steinbruch. —
„Mütterchen,“ sagte Sawienko zu der Frau, als sie ihm die Suppe brachte, „helft mir doch,
mein Atem geht, so kurz, so . . . .“ Sie richtete ihn ein wenig auf. Da streichelte er ihre Hand mit seiner abgezehrten, schmutzigbraunen. „Mütter
chen, wenn Frieden wird, kommt dein Sohn auch wieder heim, wie ich.“
Da übermannte es sie. „Wie du, wie du, Sawienko? Wirst du heimkommen? Wenn er nun so ist wie du, mein Sohn?“ schrie sie. Seine Augen weideten sich. Daran hatte er noch nicht gedacht. Aber er begriff sofort „Sterben, hier?“ keuchte er. Gerade ging die Sonne unter und tauchte die beschienenen Berge in ein Meer von Purpur. Krampfhaft richtete er sich immer weiter auf, nach Atem ringend, um zu schauen. Sie stützte ihn mit aller Kraft. Dankbar lehnte er seinen Kopf an ihre Brust.
„Mein Mütterchen, wird deinen Sohn so . . .,“ hauchte er mit dem Letzten und dann fiel er schwer zurück. — Sie aber warf sich mit einem furchtbaren Aufschrei über den Toten und bedeckte ihn mit wütenden Mutterküssen.---