seinen eitlen Kitschkomplex (damals, heute und immerdar) zu verletzen; nein, die wir suchen, arbeiten nicht mit „Abgewandtheit“ oder Titelequilibristik, bei der doch immer das Trikot verrutscht: sie legitimieren sich, indem sie den Ge
meinplatz nicht scheuen und dennoch sind. Den Wartenden fällt keine andere Rolle zu, als un
ermüdlich Buch für Buch vorzunehmen, das heute kommt, und — zu sehen. Denn seien Sie ge
wiß: Eines kommt in jedem Jahre, das uns zwingt; und wer wird von diesem Einen sprechen wenn
nicht wir, die wir auf so unendlich viel Werte vor uns verzichten, um die Namen derer, die mit uns, zu wissen ? Wir sollten alles in einem sein: Maler, Musiker, Literaten und Dichter, um mit allen Mitteln alles tun zu können, wohin wir zielen: zur Aenderung durch den Geist; denn wer auf eines beschränkt bleibt, wiederholt sich leicht, je größer seine Intensität ist, und ich
verstehe jenen mit Gewandtheit belasteten Künstler (im gefährlichsten Wortsinn), der sich ein Pseu
donym neben seinem eigenen Namen schuf, um so auch im fremden Stil das sagen zu können, was immer und immer wieder in tausend An
wendungen gesagt werden muß, bis die Zeit zur Tat reif ist, daß sie selbst uns ewig Unreife mitreißt und unsere Hemmung zertritt.
Ich kann Ihnen heute ein Buch nennen (Sie haben zu wenig gelesen), das einen Anfang bedeutet, dessen Reinheit und Heiligkeit stark ge
nug ist, um als neue Säule unsern Tempel zu stützen; umso größer das Phänomen uns allzu
Erfahrenen, da es ein Gedichtband ist: Walter Rheiner, Das tönende Herz. Dieser, den wir mit allem Ernste den Neuen, Jungen Dichter nennen müssen, wagt es, seinen Gedichten heute noch „Berlin“, „Paris“ oder „Die tragische Muse“ als Ueberschrift zu geben; noch mehr: ein „Ostergedicht“ drucken zu lassen, dessen zweiter Teil „Krieg“ betitelt ist. Lesen Sie dieses Buch: Walter Rheiner darf es. Sein Herz umklammert die einstürmende Erscheinung fest und fester, durchtränkt sie mit seiner ureigensten Glut, bis sein Ringen mit seinem Gott und die Vision eins geworden ist, daß alles restlos Ausdruck unserer Entwurzlung, unserer Sehnsucht, unseres Kampfes und endlich unserer Gewißheit wird; in diesem Sinne Ex - pressionen, da jede soge
nannte Wirklichkeit nur Anlaß zur Reagenz der Seele wird, die sie neu umgestaltet und ihr ihren Odem einbläst, bis alle Realität, vom Lazarett bis zum Kölner Dom, ein einziger Ton trägt: der Schrei des Menschen zum Menschen nach Liebe.
Mein lieber Freund, können Sie sich denken, daß dies heute einer kann, ohne über seine eigenen Kompliziertheiten zu stolpern, ohne Weih
rauch um sich zu verbreiten ? Als ein Beginn, dessen Ergebnis noch abzuwarten ist! Lesen Sie das Buch, das in zwei Prosastücken ausklingt,
die mit ruhiger Selbstverständlichkeit ein Pathos sprechen, das jenseits aller heute überall üblichen Experimente steht: hier dringt kantige Wucht in unser Innerstes.
Lesen Sie dieses Buch, und lesen Sie sein Vorspiel „Der inbrünstige Musikant“, eine lyrische Szene von Walter Rheiner mit Zeichnungen von Felixmüller (Verlag „Schöne
Rarität“, Kiel), die das letzte Aufbäumen der Romantik und ihren unabwendbaren Untergang zeigt. Lesen Sie; denn bevor Sie nicht den Namen Walter Rheiner ganz in sich aufgenommen haben, kennen Sie nicht den Geist Neuer Kunst.


Mynona, Hundert Bonbons.


[Georg Müller Verlag, München ]
Mynona (das merkt sogar ein Psychoanalytiker, meine Herrschaften) ist ein Pseudonym. Wer ist diese Mynona, diese fatale Dame, die in Berlin nachts mit jungen Lyrikern über die Tauentzienstraße schleicht und dabei lauter Bücher mit so patriotischen Titeln schreibt wie »Schwarz-Weiß- Rot“ und „Rosa, die schöne Schutzmannsfrau“ ? Sie gab nur einmal die Formel für Gerhart Hauptmann. Gerhait Hauptmann (sagte sie) sähe aus wie Goethe dividiert durch S. Fischer. Welche algebraischen Praktiken nun ergeben den wahren
Namen der Mynona? Ich will aus der Schule plaudern und ein Preisrätsel geben: man potenziere Mynona mit dem Logarithmus des umge
kehrten Namens Ihrer Durchlaucht der Fürstin Esalbne v. Jes, der Mynonas neues Buch „Hundert Bonbons“ ehrfurchtsvoll gewidmet ist, multipliziere das Ganze mit der imaginären Wurzel aus Rosa, der schönen Schutzmannsfrau, subtrahiere Morgen
stern, Scheerbart und Eisenlohr und genieße im übrigen diese 100 Bonbons. Friede allen Ländern! Selbst Salomo könnte kein besseres Urteil fällen. Mynona aber laust der Affe, schon auf dem Titelbild von A. Kubin. Hundert Sonette, um Gottes
willen werden Sie nicht blaß! Reime, sag ich Ihnen, Reime!! Jungen Lyrikern und solchen, die es werden wollen (. . . was dringend abzuraten ist; es herrscht kein Bedarf . . .) soll das
Und wozu «.xistiert das Phänomen „Kunst“, wenn es uns nicht sicher macht, bestärkt und — neu hoffen läßt?


Ihr Paul Staehly. Felix Stiemer




Durchbruch.


Mein Schritt schneidet das Trottoir. Glänzende Luft sonnigen Nachmittags schlägt mir ins Gesicht. Klingelnde Bahnen zacken um Kurven; weiße Streifen auf grünen Schildern schreien ihr Ziel. Nummer ordnet. Auf Plätzen ragen Plakate und fallen in geregeltes Tempo.
Bäume grünen bunte Häuserreihen. Vagierend in gestanztem Leben streife ich entlang. Menschen schimmern vorüber: hunderte Mikrokosmen; tausende Mikrokosmen im Steinklotz neben mir. Für mich regellos, dennoch alle veranlaßt, gebunden durch irgend einen Willen, der mir un
sichtbar in einem der Häuser dort herrscht. In jedem Stockwerk ein Regent, der durch Menschen
werkzeug auf taumelnde Straßen schlägt. Alles: Brücke, Mittel, Material für Stoß und Gegenstoß, getrieben von dem Unsichtbaren, Andern, Fremden.
Bunter Druck an Säulen tröstet für kommenden Abend, — der neues Material frißt.
*
Soll ich in ein Schaufenster treten, daß. Klirren die Mechanik sprengt, daß das Wunder geschieht: der Betrieb stockt: dort, der Rote
Radler darf von seinem Rad abspringen — darf, denn verspätete Minuten erklärt dem Wartenden mein Irrsinn, grundlos eine Riesenscheibe zu zer
treten, und vier Zeitungszeilen weisen morgen mittag nach (weisen wirklich nach), daß dies tat
sächlich geschehen, dies den Roten Radler aufhielt (wer zertrümmert grundlos Glasfenster!). Ange
stellte dürfen zehn Minuten unterbrechen, einer darf beglückt der Wache telephonieren, auf drei Minuten unterbricht das Seminar gegenüber den Unterricht; noch länger, wenn ich mich sträube, meinen Namen zu nennen. Grober Unfug! Staats-Karyatide, hier wird öffentliches Leben gekitzelt !
(Gekitzelt?) Darf ich weises Schema so zerstören, um gepreßte Augen auf Viertelstunden mit ersehnter Entgleisung zu beglücken? Morgen
nachmittag vier Uhr denkt die Verkäuferin noch einmal zurück: vor vierundzwanzig Stunden stürzte
das Glas — und vergißt wieder für Sekunden ihr Gefängnis. Darf ich ?
*
Am Riesengebäude einer Redaktion trägt gelber Rahmen das Extrablatt:
BERLIN.
Die Explosion in der Friedrichstraße. Bioscopgesellschaft. Haus
hohe Flammen durchstechen Stein und Mensch.
Endlich: Berlin. Ich atme auf. Stöhnt die Maschine? Prozessionen Tausender sehe ich zur Wallfahrt nach dem Wunder in der Friedrich
straße. Aus den Fenstern stürzen brennende Mädchen auf die Köpfe der erlöst Starrenden. Schaufenster sind zerbrochen, Betriebe geschlossen,
Buch zur Hauspostille werden. Was ist Steputats Deutsches Reimlexikon dagegen! Schüchtern, g’schämig! Mynona erbringt in hundert baren Sonetten den Beweis, daß Steputat von Reimen keine Ahnung hatte. Diese Fülle der Gesichte! Und diese schönen, schönen Verszeilen, so etwa:
„Und flennt der Hoheit heftig in die Windel“
(18. Bonbon) oder:
„ ... Ja, liebe Esther,
ich hab ja auch schon früh nach Lieb gepiept*.
(54. Bonbon)
Oder soll ich das 29. oder 31. Bonbon hier auftischen? Potz Haeckel und Harnack, nein, teuerste Mynona , nur das Motto Ihres Freundes Scheerbart, der über Ihr Buch von seinem endlich er
reichten Asteroiden herab auf ganz Halensee schmunzelt, das Motto:
„Reimerei und Schweinerei! Mir ist alles einerlei!
Alte Katzen sind nicht blöde. Aber jene Untermenschen,
die ich täglich braten möchte, machen mir die Welt so öde. Mir ist alles einerlei! Mensch, sei frei!“
Walter Rheiner (Berlin).
Angestellte fliegen Häuser entlang, Wasserströme, Sprungtücher, Leitern, Feuerwehrhelme: Requi
siten mühsam errissener Sensation, krampfhaft durchbissener Täglichkeit. Dazwischen huschen lebende Fackeln hinter schwarzen Fenstern. Ihre Todesschreie werden Fanfare zum Einbruch in
den Kitsch geregelter Existenz. Peitscht die Phantasie in das Gräßliche jeder Einzelheit: Einbruch in den Kitsch geregelter Existenz.
*
In Frankfurt a. M., da Kasimir Edschmid gekrönt wurde, gibt der Schriftsteller Karl Wasmann allwöchentlich das Blatt der „Deutschen Sozialaristokratie“ heraus, die Zeitschrift der Or
chestercafes: „Der Deutsche Freigeist“. Mitarbeiter sind Pseudonyme des Herrn Wasmann, der diese seine Schrift allein verfaßt, verkauft und davon — acht Tage später — neu drucken läßt. Woher
nehmt ihr vor diesem Menschen immer noch den Mut zum Fraß zappelnder Expressionistenprodukte,
deren rasendes Leben sechsmal in Literatur mündet? H ier manifestiert sich Einmaligkeit, Karl Was
mann verwirklicht das Unmögliche, während schiebende Presse durch Papiernot von Existenz
bedrohung wimmert. Karl Wasmann, wir würden
tausend sachliche Differenzen im Gespräch finden („Deutsche“ oh! „Freigeist“ oh! und so fort),— dennoch, Karl Wasmann, wir wollen Ihnen ein Monument errichten, dasallen literarischen Pfründen spottet; Sie wagten den Sprung aus dem System und ignorierten, ignorierten das Kapital, begingen die größte Sünde, die Sie Ihren Zeitgenossen antun konnten: sie spotteten jeder Rubrizierung, Sie ließen sich (schlechterdings) nicht einordnen.
Diesen Schutz dem Leser verwehren, wird nie verziehen, dem Leser, der nach „Überblick“ schreit, triumphiert, wenn ihm Almanache Roman
fetzen servieren und glücklich befriedigt lächelt, wenn er die „Menschen“ (Felix Stiemer Verlag) mit der „Neuen Jugend“ (Wochenausgabe) vermautschen darf, wobei Späteres natürlich „Nachahmung“ ist. Euer Blöken schwebe gen Himmel.
*
IHR, die ihr gleich mir fast verzweifelt, euern Willen in Literatur zu pressen; die ihr es dennoch tut mit dem Schwur, das Leben, euer einziges, einmaliges Leben in diese Literatur zu wandeln: reißen wir uns zusammen zum Stoß gegen die Gewöhnung. Unsere Richtung kann nicht in gepflegten Bahnen wirken, die nur An
laß zu schützender Distanz für alle Gerufenen, gegen alle Rufer werden. O diese wohlmeinen
den Versuche, Neuem Aufreiz durch Standardwork- Hülle „Fond“ zu schaffen. Dieser „Fond“ ist nicht unser. Uns gehört das Plakat, mit dem
wir unser DU! DU! hinausschreien; uns gehört
die verketzerte Sensation, das Varieté, die Operette, die wir dem Selbstzweck entrissen; die ewige Einmaligkeit, auf Vor- bilder zu verzichten (der neben uns sei unser Bild); zu verzichten auch, Vorbild zu sein: über uns hinweg mögen uns andere vergessen, um beim Klang elektrischen Orchestrions die begangenen Wege weiterzurasen, bis jeder Kläffer verendet und die Stärke unseres Tones alle eint.
*
Wer solche Flamme zwingt, darf sich geheim in seine letzte, tiefe Stille senken, die einzig diese Kraft emporschleudert.
[Aus Felix Stiemer, Morgen, Heft HI.]


Die Weißen Blätter,


herausgegeben von René Schickale im Verlag von Roscher & Cie., Zürich, die führende Zeit
schrift jüngster Dichtung und Kunst, erscheinen wieder. Das erste Heft (Juli 1918) enthält Bei
träge in deutscher und französischer Sprache von Mynona, Ferruceio, Busoni u. a. Nähere Besprechung in der nächsten Nummer unserer Zeitschrift.


MENSCHEN.


Literarische Mitarbeiter: Olga v. Adelung, Hans Bauer, BessBrenck-Kalischer, Kurt Bock, Dietrich, Richard Fischer, Oskar Maria Graf, Alfred Günther, Felixmüller, Mynona, H. Phil, Walter Rheiner, Jo Hanns Rösler, Curt Saemann,
Heinar Schilling, Paul Staehly, Felix Stiemer, Eugen Styx, Anton Walten.
Graphische Mitarbeiter: César Klein, Felixmüller, Arnold Schmidt-Niechciol, Georg Tappert.
Die erste Nummer (15. Januar) diente dem Aufruf und der Propaganda, die zweite (15. März) warb für Felixmüller, die dritte (15. Mai) gilt den Literarischen unseres gründenden Kreises. Nr. 4 zeigte Prinzipielles in unserer Stellung zur neuen Kunst und zu deren bisher alleinigen Intrepreten, Nr. 5 gehört neuer Mitarbeit.
Da die Nummern 1—3 demnächst vergriffen sind, sehen wir uns genötigt, den Preis dieser Blätter auf je Mk. 1.— festzuseßen. Der Preis für das Jahresabonnement 1918 erhöht sich damit auf Mk. 5,80 excl. Zusendung.
Die Adresse der Schriftleitung des „MENSCHEN“ verändert sich von dieser Nummer ab wie folgt:
für Lyrik und Szene: Walter Rheiner, Berlin
Weißensee, Lindenplaß 1;
alle anderen Einsendungen sind an die Schriftleitung zu richten: Felix Stiemer, Freiburg i. Br., Schwarzwaldstraße 29.
Bruck: E. Absudroth. Bio«. Copyright 181g bj F»Ux Sti.ner Y«l»g, Cniin.
KRITIK.