„Dieses Stück wurde im Herbst 1913 geschrieben und hat den Zweck, die Welt zu ändern. Es ist die Darstellung des Kampfes durch die Geburt des Lebens, der Aufruhr des Geistes gegen die Wirklichkeit. Der erste Akt der menschlichen Geschichte ist Besitzergreifung; noch bedeutet Freiheit frei sein und nicht frei werden, das Wunder der Unbewußtheit zur Bewußtheit des Unendlichen. Aus diesem Wunder entspringt die Tat. Als Forderung des Willens, der durch sie von neuem die Welt erschuf, biegt sie das Will
kürliche ab in die Folge eines notwendigen, von Gesetzen regierten Seins. In ihr offenbart sich die Erkenntnis der ewigen Gegensätze, um deren Mitte in gleichen Abständen der Geist des Leben
digen rollt. Diese Mitte, begriffen als eine Kraft, liegt der Idee des Dramas zu Grunde. Von hier bewegt, löst die Einheit sich auf in eine Mehrheit des Kosmos, um, auf der Spur des Mensch
lichen sich ergänzend, wieder in höherem Sinne sie selber zu werden. Deshalb ist der Sinn des Lebens nicht die Tat, sondern die Frage des Sittengesetzes, und das höchste Ziel ein Zustand, wo beide, Gesetz und Tun, zusammenfallen in dem Reiché Gottes. Deshalb wächst die Hand
lung aus dem Zufälligen in die Gewißheit, der eine späte Erfüllung nicht mehr Schlag, sondern Opfer bedeutet.
Dieses Drama ist die Menschwerdung. Der Umweg des Geschöpfes, sein Urbild zu erreichen; das Spiel des Sohnes zum Vater, das Vorspiel des Bürgers zum Staat. Nicht die Wahrscheinlichkeit besonderer Charakteure mit der allge
meinen Rechnung ihres Typs: es ist die Welt des Zwanzigjährigen, aus der Seele des Einzigen ge
sehen. Der Versuch, das Gegenspiel der Figuren in demselben Darsteller zu verkörpern, würde die


Der Kopro-Laller


(Päan gegen einen Zeitdichter).
Motto:
„Es brachen auf des ganzen Reichs Aborte. Urine-Gas dem breiteren Strom entdampft.
Gesprenget weit der Abfallgruben Bretterpforten. Ein Irrer Brei verwester Fische mampft.“
Dieser Becher ist ausgeschenkt. Kein Wunder, wenn man in einer fast pathologischen Gier nach dem Wort, zwischen 18 und 25 Jahren zehn Ge
dichtbücher und Prosabücher (die meist auch Gedichtbücher sind) schreibt; — wenn man jede, auch die gleichgültigste, Gelegenheit und Nicht
gelegenheit unzüchtig ergreift, um an ihr eine Syntax zu erigieren, deren Wesen ein gewaltsames Ausweichen, eine eifervolle Angst ist, unoriginell
zu erscheinen; — wenn man „sich übt“ und übt und zwischen jeder Mahlzeit, jedem Stuhlgang und jeder Injektion diese eitelen und verlogenen Stilübungen ohne den geringsten schöpferischen Zwang, ohne Schicksal und Sendung zu Papier bringt und dann den ganzen Quark, in kleiner wissenschaftlicher Antiqa, in dicken Büchern, mit [mathematisch-] pseudosystematisierendem Beiwerk und Trara drucken läßt, um es schwarz auf weiß vorzeigen zu können: — hier: 700 Druckseiten Genie; garantiert! [nur echt mit der Schleuder- Geste! der bayrische Dante!] the greatest Original
titanic - poet of the World! [die Atelierpotenz aus Rimboud, Kleist, Baudelaire, Heyne!] Hah!!!
Traurig, wenn das einer tut, der unverkennbar ein Dichter ist. Was ist das Ergebnis? . . . Die ersten fünf Bücher sieht der Verfasser selbst sich genötigt zu verleugnen. Aus den späteren fünf bleibt in der Feuerschmelze der Ehrlichkeit soviel zurück, um einen Gedichtband zu füllen, der lesenswert wäre, [wenngleich er uns manch
mal heimlich bekannt vorkommt]. Aber diese Dichtfabrik auf Kriegslieferungen, die schon die Fürze der Tagespolitik zu Explosivstoffen zu ver
arbeiten sucht, läßt uns kalt wie jede andere
Fabrik. Der leere Schlauch bläht sich, der Becher geht zur Neige:
„Es füllet nichts die hohen Krüge mehr“.
Möge er mit Hilfe einer Dichterfibel wenig benutzter Worte fleißig noch Dutzende von Ge
dichtbänden schreiben, nach dem Gesetz der Trägheit, er: nicht mehr Ringender de profundis um die Gnade eines Frühlings, nicht mehr Erde, nicht mehr Verfall und Triumph. Nur Manufaktur. Uns lebt Werfel, Mombert, Däubler, Ehrenstein, Herrmann, Loerke und ein kleine Schar Ergriffener, die heißen Herzens sind.
Walter Rheiner (Berlin),


Berta Lask — Felix Stiemer Offener Brief an Eelix Stiemer.


Sehr verehrter Felix Stiemer!
Mit tiefer Bewegung und Freude hörte ich den Widerhall, den meine Worte in Ihnen erweckt haben. „Wir kommen!“ rufen Sie mir zu. Aber wohin kommen Sie Felix Stiemer? In das Land hinter den Bèrgen ? In Ihrs oder in meines ? Es gibt wohl nur ein Land hinter den Bergen. Doch
jeder der auf den Wege dorthin ist wird es anders sehen.
Einheit des Ganzen erläutern; ein Zuschauer, der, dem Parkett und der Bühne entsagend, außerhalb stände, würde erkennen, daß alles, was hier ge
schieht, nur verschieden ist als Ausdruck des einen gleichen Gedankens.
Wichtiger als dies Bekenntnis eines, wenn man will, expressionistischen Dramas, ist das Manifest, um dessen Willen es auf die Bühne gelangt. Ein Jahr vor dem Ausbruch des Krieges
In dem Lande hinter den Bergen gibt es keinen Gegensatz mehr zwischen Archie und Anarchie. Dort fallen Gesetz und Freiheit zusammen. In uns aber noch nicht Felix Stiemer. Und wenn wir Beide Pilger nach demselben Lande sind, muß ich mit ihnen davon reden. Wollen wir in uns selber Anarchie? Wollen wir, daß in dem viel
fältigen Kosmos unseres Ich Trieb gegen Trieb schrankenlos tobt? Was könnte dies anders be
deuten als Despotie jeden Augenblickgelüstes? Wollen wir nicht vielmehr die Archie des Besten und Wesentlichsten in uns über das Geringere ? Wir wollen den funkelnden Reichtum des herr
lichen heiligen Lebens in uns und um uns nicht mehr verraten und opfern wie frühere Asketen. Wir sagen „ja“ zu allem Blühen unseres Sein, zu
allem Blühen der Erde. Doch immer wieder wird ein Etwas in uns aufsteigen, aus dem Chaos der
Kräfte, bei manchen ein gekröntes Haupt, das die anderen Kräfte despotisch zwingt und formt, bei
manchen ein ruhender Kern, um den schweigend und kampflos die anderen Strebungen sich ordnen,
wir wollen nicht Anarchie in uns. Wir wollen die Herrschaft unseres Wesentlichsten und Besten. Nur soll kein Unberufener uns sagen, was unser Bestes ist oder sein soll. Und niemand soll
unserem Wesentlichsten die Richtung befehlen. Keinen Stoß von außen wollen wir, keinen fremden Strom, der uns mitreißt, keine vergewaltigende Gewalt. Nicht Gewalt und doch Herrschaft, die Herrschaft des Lichtes über das Dunkel, die Herr
schaft des Lebens über Erstarrung und Tod. Wer getrieben von eingeborenem Schicksal untertaucht im Feuerstrom seiner Leidenschaften, jauchzend, ohne Vorbehalt, der holt aus der Tiefe des Ich- Kosmos seines Wesens Wesentlichstes, einen hei
ligen Kern, einen unantastbaren. Seiner Herrschaft fügt er sich, um diesen beherrschenden Mittel
punkt kristallisieren seine anderen Kräfte. So
bindet der Kern, der Sinn unseres Seins, alle Strebungen. Durch solche Bindung erwächst unserem Leben befreiende Form.
Wie im Individuum, so im Staat. Herrschaft des Wesentlichsten, Wertvollsten und Führerschaft der Besten, jener Kraftzentren und Mittelpunkt im Menschenchaos, von denen ordnende Macht aus
strahlt, Macht, die nicht lähmt und vergewaltigt, die nicht Willenlose und Widerstrebende zwingt,
Macht, die das Edle befreit und zu sich selber führt und lauernde Gemeinheit niederhält.
Wo Unwesentliches herrscht und Wesentliches erdrosselt wird, da ist Anarchie, mag sie noch so geordnet und organisiert sich gebärden. Wir rufen gegen das wilde anarchische Toben peripherischer Kräfte die rettende Herrschaft des heiligen Zentrums. Was unserem Sein den Sinn gibt, soll Mittelpunkt und Herrscher sein. Im einzelnen Individuum soll herrschen, was jeder als sein Heiligstes in sich fühlt. In der Gemein
schaft der Individuen: was jedem ermöglicht, sein Heiligstes zu wahren und zu stärken. Darum, solange wir noch nicht in dem Lande hinter den Bergen wohnen, wie kann es Wichtigeres geben als „den Geist in den Stand der Macht setzen“ ?! Und ein Senat der Berufenen, der dem heiligen Zentrum Zugeschworenen wird nie dasselbe Gesicht haben wie ein Senat von Standesinteressen
vertretern. Ihn wird, wie immer auch sein Name sei, nicht die alte Form zu altem Inhalt drängen. Bleibt sein Blick der zentralen Sonne zugekehrt,
so wird durch den Geist seines Wirkens auch die Form neu.
geschrieben, wird es heute zum Alarm an die Menschheit. Der Verfasser weiß, daß wir alle Söhne, daß wir mehr als Söhne: daß wir Brüder sind. Er hat in diesen Akten die Geschichte des Jünglings geschrieben , der von der Freiheit der anderen zu seiner Freiheit gelangt. Vor ihm liegt der Weg des Mannes; der Aufbruch des Gewissens in die Zeit. So darf sich der Dichter erheben in die große, noch ferne, schon politische Tragödie. . .
Möge zu jenen, deren Herz dies Schauspiel ist, ein Ton in die Gräben dringen! Ein Glaube in die letzten Maße von Wahrheit, Lüge, Schick
sal und Schmerz. Möge mancher, der an dieser Stelle nicht weilt, dennoch wissen: ihm wird geholfen.“
Dies Vorwort war an den Regisseur gerichtet. Inzwischen mußte ich erkennen — mit einer ein
zigen Ausnahme: Richard Weichert am Hoftheater in Mannheim — daß die Dummheit der Regisseure größer war als meine Frechheit. Es ist Zeit, einen Schwindel aufzuklären, auf den die Geister hereingefallen sind. Expressionismus gibt esjnicht!
Dichten heißt: eine Absicht haben. Wer sie zustande bringt, hat die Richtung. Wer sie nicht hat, drückt aus, was dem andern eingefallen ist. Dieser Zustand ist expressionistisch, Es gibt
wenige, denen etwas einfällt und viele Expressionisten! Der Expressionist hat den Standpunkt.
Er wechselt die Farbe; es kommt auf den Druck an.
Das Drama erfindet Gesetze. Gesetz ist die Ordnung der Welt durch den Geist. „Alle Menschen müssen sterben. Cajus ist ein Mensch.
Also Cajus muß sterben.“ Der Fundamentalsatz der Logik ist der Anfang des Dramas. Aber Cajus ist nicht das Drama!
[Aus: 1918, Nene Blätter für Kunst und Dichtung, Heft 2.]
Der neue Mensch, auf den wir warten, wird nicht Anarchie bringen, sondern neue Herrschaft. Dem Wesentlichen in uns selber gläubig und mutig zur Herrschaft helfen, im Innern und in
der Umwelt, hilft ihm den Weg bereiten und hilft uns selber auf den Weg nach dem Lande hinter den Bergen.
Berta Lask.


Erwiderung.


Wer diese Ihre Worte, verehrte Frau Doktor, in sich eindringen läßt, wird sich zunächst be
freit fühlen: alle etwa anhaftende Problematik fällt ab, klar vorgezeichnet tritt der Weg unserer Zukunft hervor, sofern wir nur wollen. Und das,
was uns sprechen läßt, ist ja die Gemeinsamkeit unseres Willens zu unserem Ziel: das Land hinter den Bergen, das Paradies, die Realisierung abso
luter Gestalt; wenn wir wirklich unter diesen Terminologien Differenziertes verstehen, wird und muß jedes endliche Ergebnis weit genug sein, um diese Schattierungen in sich zu fassen. Trennend erscheint nur der Weg.
Sicher: Keiner wird fähig sein, zu wirken, der nicht im Ringen gegen die Anarchie in sich steht; Keiner, der die Anarchie in sich bezwang, wird sie seiner Mit-welt als Ziel Vorreden wollen. Sie setzen eine Analogie zwischen der Entwick
lung in uns und außer uns. Dann seien wir gewiß, daß der neben uns ebenso den Zusammen
bruch erlebt haben muß, wie wir ihn in uns durchkämpfen mußten. Solange er noch auf
tönernen Füßen aufrecht und sicher dasteht, wird ihn jede neue Form höchstens einzwängen, nie ändern („Weltfriedensbund mit Zwangsgewalt“). Erst wenn er das Nichts vor sich (und damit i n sich) erlebt hat, kann er mit uns nach dem Lande hinter den Bergen ziehen. Was aus diesem öffentlichen Bankerott (im Gegensatz zu dem ge
heimen heute) hervorgeht, braucht nicht mehr „den Geist in den Stand der Macht zu setzen“; denn es erkennt, daß eine Macht (hier — im Gegensatz zu Nietzsche — gleich Institution, Herrenhaus etc.), dem Geist wesensfremd ist: Geist wächst nur aus der Verzweiflung und dem Nicht-anders-können.
Gewiß ein Weg, der wie ein Alp auf uns liegen kann. Ein Weg, der noch viele Wortführer demaskieren wird. Die Gemeinschaft muß ihn gehen. Sie ruft uns.
Felix Stiemer.


MENSCHEN.


Literarische Mitarbeiter: Olga v. Adelung, Qehrhard Ausleger, Hans Bauer, Bess Brenck-Kalischer, Kurt Bock, Dietrich, O. S. Diehl, Albert Ehrenstein, Richard Fischer, Herbert Friedrich, Oskar Maria Graf, Alfred Günther, Walter Hasenclever, A.Rudolf Leinert, Felixmüller, Mynona, H. Phil, Walter Rheiner, Jo Hanns Rösler, Curt Saemann, Heinar Schilling, Paul Staehly, Felix Stiemer, Eugen Styx, Anton Walten.
Graphische Mitarbeiter: Edmund Fabry, Walter O. Grimm, César Klein, Felixmüller, Arnold Schmidt-Niechciol, A. Nerlinger, Georg Tappert.
Da die Nummern 1—3 demnächst vergriffen sind, sehen wir uns genötigt, den Preis dieser Blätter auf je Mk. 1.— festzuse^en. Der Preis für das Jahresabonnement 1918 erhöht sich damit auf Mk. 5,80 excl. Zusendung,
Die Zeitschrift erscheint 1919 halbmonatlich. Preis:
halbjährlich [12 Nummern] Mk. 5.—
Druck: R. Abendroth, Biet». Copyright 1918 by Felix Stiener Verlag, Dreidea.
Selbstbildnis — Walter O. Grimm.