Oskar Maria Graf
Der Mann
Ein novellistischer Versuch (für Pegu)
Als Alfred Harms auf den Straßen war, fiel er in sich zusammen. Wie eine Welle Vergessen
heit hallte das Getös der Stadt auf ihn ein, über ihn weg, begrub ihn. Andern Tags beim Erwachen wußte er: „Drei Tage!“— —
Drei Tage! ! ! —
Drei Tage! Einmal wird eine Kunde vielleicht durch die Welt gehen: „Drei Tage, dann ist alles aus!“ Niemand mehr lebt weiter. Jeder kann nur noch diese Zeit zu seiner Ewigkeit machen. Vielleicht wird man soweit kommen, diese drei Tage zu rationieren. Vielleicht jagen sich viele die Kugel durch den Kopf, andere saufen sich tot, andere beten sich den Mund
wund - - Sekten werden sich zu Gott aufmachen. Gott wird lachen! Lachen! - --
Wird lachen wie dieses schmierige Hähä im Zimmer von damals, das Erinnerungen von bürger
lichem Mobiliar, Operationstischen, Klubsessel etc. wachrief. - - -
Dergestalt fühlte Alfred Harms diesen Gott, daß er zu vermeinen glaubte, derselbe grinsre aus den grellfarbenen Auslagenfénstern, aus den verhöhlten Fenstern der Häuser, blickte aus den zwinkernden Augen eines zufälligen Nebenmannes, mäße ihn scheel, daß etwas zu tief Verankertes in ihm sich aufschlitzte, Blut ins Gehirn stieß. —
Auf einer schattenüberdachten Anlagenbank dann, viel später, fand Alfred Harms eine Frau. Sie saß abendlich und in sich versunken, wie von
irgend einem Traum hergetragen, in ein Fernes auflauschend —
Nach viel gleichgültigem Gerede entfiel ihr die Frage: „Sie sind nicht dabei?“
Harms hielt einen Augenblick inne. Dieses „Dabei“ klang so selbstverständlich, so außer allem anders Denkbaren, daß er bereits wieder etwas innewurde von einer Nacht, die lastgleieh, gewitterwölkig ihn umgitterte.
„Nein“, sagte er kurz, dann aber fügte er hinzu: „Man kann eben nicht dabei sein, wenn man nicht dafür geschaffen ist.“
Sie lächelte. Drehte sich nach ihm: „Glauben Sie nicht, daß es ein Schicksal gibt?“ Sein diesmaliges Nein klang wie Punkt, Schluß. —
„Sie sind also auch einer von denen, die da glauben, daß Schicksal oder sowas nicht da wäre und die Menschen überfallen könnte, wenn s;e sich vorbedächten?“ sagte sie darauf bei
nahe kokett und fing das Lächeln von vorher wieder auf. —
„Es gibt überhaupt kein Schicksal, es gibt nur Macht,“ sagte er resolut und dachte ver
bissen: ,was geht mich das alles an? Sie hat gewiß Nutzen von dieser Art Schicksal.1
Als er sie aber ansah, kam Scham über ihn, denn es ist wohl so, daß es Augenblicke gibt,
wo das Auge des Beschauers sein Objekt ganz bis in die letzten Tiefen sieht, wo sich etwas vom Wesen desselben blitzhaft erfassen läßt — offenbart. Auf einer Straße sieht man hundertmal einen Kntscher, geht unberührt vorbei — aber einmal, nein, vielleicht nur einen Bruchteil dieses Einmals lang, sieht man nicht mehr einen Kätscher, sondern den Kutscher. —
Lind bog sich uuterdessen Abend über die Baumkronen, schwanger von Dunkel. Olivner Fluß bemurmelte sein Fließen. Kein Schritt beknirschte mehr tagwunden Weg und fern sanken deutungslose Wortgeräusche ins Meer des nacht
gedumpften Stadtlärms. „So sprach mein Mann auch, als er iu den Krieg ging, — dann fiel er. Ich fiel vielleicht aüch, so wie ich damals war,
Heute kann nur mehr mein Zweifel fallen,“ sagte sie mit gedämpfter Stimme.
Dann ging sie. Gradherzig, schwebend floß ihre steile Gestalt ins geballte Dunkel, das sich hinter ihr schloß, wie eine sich langsam ineinanderfugende Faust.
Tiefnachts in die Ottomane vergraben leuchtete Alfred Harms diese eine Gewißheit auf —: Macht wider Macht aus Schicksal. —
Ein zerrissenes Kampffeld mit ungeheuer gi t- gelben Granattriehtern, geschlitzt von gewundenen Schützengräben, verfetzte Baumstümpfe, unzähl
bare Menschenleiber, hirnlos auflauernd bis, bis —
Und irgendwo ein Hauptquartier, Mitte eines Energienetzes — ein, zwei Menschen, die an den Knopf drücken, Ordonanzen flitzen lassen, durch Blutbäder irr sich hetzende Meldereiter durch ein einziges papiernes Wort schicken, Regimenter Hirnloser blutentgegen jagen —: Macht! - -
Macht: Wälle verröchelter Leiber aufschichtend, Macht: todsäend, Heimatländern Triumph aus faniarenen Herzen entlockend, Bluttriumph!
Arbeiterbataillone in Städten Resolutionen aufsteltend, Proteste vermenschlichter Parteimänner in Parlamentsgezänken vertrottelnd —: Irgendein Mund spricht den Befehl eines Schicksals. Hun
derttausend Geistige vereinigen sich, schreiben Bücher, appellieren an die Vernunft, versentimentalisieren in Anklage und Worteschwall - : Um
einen einzigen Feldherrn lodert die Hölle. Er allein steht hoch über allem, erfüllt, gebietend aller Ungefülltheit. —
Edmund Fabry Originalholzschnitt
Ekstase.
Erschlafft fiel der Erleuchtetete in zertrümmerten Traum. —
Abends am zweiten Tag ließ sich Alfred Harms strömen. Ohne Hemmung ging er lange Straßen durch, versaß Stunden in nebensächlichen Kneipen, vertrödelte sich nnd die Zeit im Durch
stöbern von Kaufhäusern, irrte weglos. Morgens am dritten Tag erschien er in der Kaserne. Eigent
lich sollte er erst am andern Tage kommen, aber immerhin, er könnte schon dableiben, meinte der Feldwebel, ein Mann mit schmalem, abgeschabtem Gesicht, das sehr furchig war.
„Ich komme nur um zu sagen, daß ich kein Hirnloser bin, ich glaube nicht - - “ Der alte
Mann mußte verzeihend lachen, sagte Harms väterlich auf die Schulter klopfend: „Es geht bei uns garnicht so schlimm her. Bloß die ersten Tage das Ungewohnte. Aber das legt sich. Sind eben ein bißchen leutscheu, sowas legt sich.“
Nicht nachgeben, nicht weich werden, dachte Harms. Er fieberte bereits. —
„Ich sehe und empfinde nicht, daß irgendwer über mich bestimmen kann, drum bin ich gekommen,“ sagte er ein wenig linkisch.
Der Feldwebel nickte ganz selbstverständlich und lächelte dabei altklug: „Alte Geschichte, alte Geschichte. Aber hören Sie, junger Mann, hören Sie, ich bin ein Jahrzehnt und noch so die Hälfte in diesem Kummet, aber glauben Sie mir, glauben
Sie, sowas läßt sich eben nur denken beim Militär .— und — und auch im Leben, aber tun? Tun heißt etwas andres als denken, glauben Sie mir. Ich versteh Sie vollkommen. Kommen Sie!“ Damit öffnete er die Tür: „Bitte!“
Alfred Harms stand wie eine Säule, straffte sich: „Aber ich will mir nichts denken, was ich nicht tue“. - - Das Andere stottere er. —
Jetzt kam Bewegung in den Soldaten. Seine Worte klangen befehlshaberisch herausgeschleu
dert: „Denken oder nicht! Ich kann mich nicht unterhalten da mit Ihnen. Was wollen Sie denn dann eigentlich, wenn man fragen darf? !“ —
„Ich will bloß sagen, daß ich kein Soldat bin und deshalb auf keine Aufforderung gehe“. —
Ein operettenhafter Leutnant stelzte in diesem Augenblick durch die Tür. Das war wie ein Schlag. Die Stiefel des Feldwebels klirrten zusammen.
„Den Tagesbefehl, bitte!“
„Zu Befehl, Herr Leutnant, hier!“ „Neuigkeiten ?“
„Nein, Herr Leutnant!“ Da sprang Alfred Harms rutengleich in sich auf: „Herr Leutnant!?“ Der Offizier maß ihn von der Seite, gesichert: „Na — — und - - -?“ „Ich bin da, weil ich
kein Soldat bin — weil — weil ich nicht kann!“
Daraus entklang ein entschlossenes Letztes. Der Leutnant wuchs sich zu einer Filmstellung aus, sagte näselnd: „Na, warum denn nicht?
„Man muß sowas im Gefühl sein, fand ich, müssen kann man nicht und wenn man sich dazu zwingt, lügt man, Herr Leutnant!“ Dieser Satz war unterminiert von Menschsein, das die Hand nach irgendwem ausstreckte, oder es wenigstens wollte. —
Als ihm der Feldwebel die Sache auseinander legte, lächelte der Leutnant bloß. „Man könnte Sie jetzt eigentlich sofort abführen lassen. Wissen Sie denn etwa nicht, daß auf sowas Todesstrafe, oder mindestens lebenslängliche Festungshaft fällt?“ sagteer zu Harms, der abwartend dastand.
„Solche Konsequenzen kann doch schließlich auch nur derjenige in Betracht ziehen, der sich der Macht bereits unterworfen hat. Ein außer diesen Bereichen Stehender - - “
„Was sind Sie von Beruf?“ fiel man ihm ins Wort.
„Drogist!“
Die zwei Soldaten schüttelten die Köpfe. Der Leutnant sagte loyal:
„Wissen Sie was. Sie kommen kaum wo anders hin als in ein militärisches Laboratorium. Geh’n Sie jetzt heim und kommen Sie morgen. Ich rate es Ihnen, weil ich es Ihnen gut meine.“
Dann verließ derselbe das Zimmer. Einen Augenblick stand Harms starr den Feldwebel messend gegenüber. ,Sogar streicheln kann solche Macht, so sicher fühlt sie sich, daß sie sogar mit — — — — — Mittendurch riß der
Feldwebel diesen Gedankengang, als er ganz bieder sagte: „Es ist ja alles nicht so schlimm. Also dann morgen. Adjö!“
Durch lange verdumpite Gänge trug Alfred Harms bitterste Demütigung. Auf der Straße sah er gegenüber auf dem Trottoir zwei lachende Sol
daten, hörte: „Ist ’n feiner Fuchs der Leutnant, nobel, nur nobel - -man braucht ihn nur ver
stehen.“ Harms ging geradeaus. Geradeaus, als wollte er Mauern durchgehen, selbst seine Furche graben ....
Der Abend schmiß ihn in den Zufall, daß er auf der damaligen Bank saß, wieder neben der Frau. Sie war über ein Buch gebeugt, und es
war als klebe der wunde Tag noch an ihrem Körper und sauge sich vampyrhaft in abendliche Erholung.
„Sie sind noch da?“ sagte sie und hatte wieder das Lächeln von damals im Gesicht. Er staunte einen Augenblick über dieses verwundert betonte „Noch“. Es kam ihm vor wie ein leisironischer Vorwurf, dem der grinsende Hohn im Nacken saß. „Heißt ungefähr soviel wie: Sie sind noch immer nicht dabei?“ warf er verbissen hin und saugte einen maßlos bösen Blick in sie. —
Sie lachte. Ihre Zähne zischten schneeweiß ins Dunkel, leuchtend wie plötzlich aufstrahlende Perlen, unwirklich. Sie saß da wie eine Statue, übermächtig selbstsicher und unantastbar. Es war, als stünden hinter ihr Hunderte, Tausende
solcher Frauen, nur sie wäre das sichtbare Symbol. Nur sie wäre ein ins Helle, Sichtbare gerücktes Zeugnis von all den Gleichen dahinten im Dunkel. ............Nach einer Weile wandte sie ihr Gesicht
ihm zu. Ihre Pupillen rollten: „Weil Sie zu feig sind!“
Er ahnte eigentlich sowas. Trotzdem aber traf es ihn. Denn es war so, daß dieser Vorwurf weniger den Menschen, als vielmehr den Mann in ihm traf. —
Eine schweigende Sekunde zerglitt, die ein ungeheuer Haßgieriges zwischen diesen beiden Menschen hochsteilte, das sich drohend blähte. Instinktiv nahm jeder in sich Wehrstellung.
Alfred Harms wollte dieser Fremden da das heute Erlebte erzählen, aber schon witterte er da
hinter eine Art Rechtfertigung des Mannes, der sich gedemütigt fühlt, ein leises Zugeständnis, für das sich dieser Mann vor diesem Weibe, vor dem Weibe zu entschuldigen hätte. Deshalb sagte er plump: „Ihr Weiber wollt alle nur den Athleten, deshalb glaubt Ihr ans Schicksal! Der Mann soll bluten darunter.“ Darauf lachte sie gell auf, daß die Luft sich jäh zerteilte, ihn wie ein fieberndes Wellenschlägen umzitterte, beengte,
sodaß er nach Atem rang. — Etwas zischte auf in ihm. Er umklammerte ihr Handgelenk, riß sie an sich. Sie schrie geller: „Feigling!“, daß er unschlüssig losließ. Dieses eine Wort zog einen Ring um ihn, der immer eng und enger wurde, seinen Körper einschnürte. — Nach einer haß
zerhackten Weile hatte er die Waffe an der Schläfe. Sie blieb abwartend, gemessen, prüfend, ruhig.
„Das tut der Mann,“ sagte er kalt.
Das tut der Feigling!“ brüllte sie ihn an, „denn er allein spielt solches Kino mit sich.“
Da knallte der Schuß, der zweite, dritte, vierte - - .
Mit einem wüsten Aufschrei, der wie ein Blitz die Nacht auseinanderspaltete, daß sie don
nernd, lastgleich auf den Mann niederfiel, zuckte das Weib zusammen und glitt zu Boden. Alfred Harms schoß immerzu, drückte unablässig ab,
schoß nach all den unsichtbaren Frauen, die er dahinten im Dunkel witterte, schmiß atemlos die versagende Waffe nach ihnen, flitzte keuchend in die unbekannte, ungeheuer fremde Nacht, fort, immerzu geradeaus, wie durch Wände, Dorngehege, die seinen Leib wundrissen.
Ein später Mond stand tagwelk im wuchtlosen Gewölk. —
Ohne zu wissen warum, meldete sich Alfred Harms am andern Tag bei seiner Truppe. Als er die Tür der Regimentskanzlei durchschritt und den Feldwebel loyal - phlegmatisch lächeln sah, fühlte er ein leises Aufzucken und es war, als fiele etwas ab von ihm, etwas, das man gemeinig
lich das Menschlichste im Menschen zu nennen pflegt. —
„Na seh’n.Sie,“ lächelte der Feldwebel jovial als er so etwas wie eine Entschuldigung achtlos überging, „warum sollte ein so mannhafter Bursch wie Sie nicht Soldat sein wollen!“
Und Alfred Harms war Soldat. - -
Schluß.