Offener Brief an Ludwig Rubiner.
Verehrter Ludwig Rubiner.
Alle haben das Recht, zu Ihnen zu reden, denn Sie haben Alle gerufen und sind in die un
bekannte Menge vorgestoßen. Aber bei mir isf es doch noch etwas anderes. Ich brauche Sie mit Ihrem starken Sinn für persönliche Begegnisse kaum an jenen fröhlich-schönen Abend in Ihrem Hause in Halensee zu erinnern, als Sie und Carl Einstein Scheerbartsche Katerpoesie deklamierten und das Gespräch zwischen Himmlischem und Irdischem hin und her blitzte. Der Klang jenes Abends ist Ihnen und allen Beteiligten in Erinnerung. Seither ist mir’s noch würdig mit Ihnen ergangen: wir haben uns nicht wiedergesehen, aber bei allen Menschen, die für mich Bedeutung ge
wannen, wurde an irgend einem Höhepunkt Ludwig Rubiner genannt. Ich weiß, wie ich im strömenden Herbstregen mit Salomo Friedländer durch die Frankfurter Anlagen zog; wir sprachen von Rubiner und Mozart, Rubiner und der ita
lienischen Oper, Rubiner und Busoni. Und ich denke daran, wie es mich frappierte, als Felix Stiemer (damals noch ein Fremder für mich) am ersten der Dresdner Expressionistischen Abende Ihre „Aenderung der Welt“ zum Kristallisationspunkt für die Geister machte, die hier ausein
ander und zueinander strebten. Und nun bin ich und sind viele mit mir zu der Ueberzeugung ge
kommen, daß wir Sie brauchen, unbedingt und notwendig brauchen! Es drängt so Vieles hier zur Entscheidung und zur Verwirklichung,
und es fehlt nur an der Persönlichkeit, die all die tausend Ansätze und Möglichkeiten findet und zum Leben ruft. Ich bin viel herumgekommen in diesen Kriegsjahren und traf überall denselben Geist, dieselbe Not, denselben Schrei nach Einung, Sammlung und Besitzergreifung und dieselbe Ohnmacht! Es ist viel von Jugendbewegungen ge
sprochen worden, von dem Eigenleben der Jugend und ihrem Recht auf Eigenexistenz. Mich dünkt,
wesentlicher als die Kultivierung einer „Jugend nnter sich“, die oft durchaus nicht ohne Züge von Greisenhaftigkeit ist, ist die gegenseitige Be
fruchtung und Durchdringung verschiedener Alters
klassen, ist vor allem die Wahl des Führers. Wir haben gewiß auch im heutigen Deutschland einige, die Führer sein könnten, denen es aber doch an der einen oder anderen entscheidenden Eigenschaft
dazu gebricht. Da ist Gustav Landauer — aber er verschließt sich uns und ist nicht einmal dafür zu haben, literarisch bei der Sammlung des Geistes mitzuwirken; da ist Kurt Hiller — aber er poltert und hat sich anscheinend auf ein politisches System festgelegt, ehe noch dis Politisierung der
Köpfte Wahrheit wurde. Wyneken und Hans Blüher sind Einseitige, die über der Strenge ihrer Forderungen leicht vergessen, daß unter den verschiedensten Verhüllungen und Verzerrungen der Geist sich verwirklichen will. Und es kann auch keiner Führer sein in dieser Zeit, dem sein Werk, sein Schaffen, was er als Denker oder Ge
stalter in die Welt stellen will, wichtiger ist als die Tat, die die Gemeinschaft aufrichtet und in
der auch die Arbeit des Führers unlöslich in das Gesamtwerk eintaucht.
Wir haben die Anzeichen, daß Ihnen solch lebendiges Wirken noch notwendiger ist als das stille Schaffen am Schreibtisch. Wir haben die Jugend, die nur auf den Einen wartet, der die
vielfältigen Strömungen zum gemeinsamen Ziele bindet. Wir haben auch eine Reihe jugendlicher Führerpersönlichkeiten, die in Kiel, in Hamburg, in Frankfurt, in Dresden, in Leipzig, in München den Kreis der Gleichgesinnten sammeln und leiten könnten, wenn nur erst der Umfassendere und Erfahrenere sich findet, der die Synthese der Extreme darstellt und die Parole zum Handeln gibt.
Der Moment ist bedeutsam genug. Das Nachlassen der Zensur und der Preß und Versamm
lungsschwierigkeiten kann all dem, was bisher unterirdisch sickerte, zum Durchbruch verhelfen
— es kann aber auch mit dem Aufhören des Drucks die Nichtigkeit und Hohlheit vieler heute Großsprechenden sich erweisen. Das Zurück
strömen unserer Freunde von der Front, soweit sie uns erhalten blieben, und all derer, die die Not der Zeit zu den Unsrigen gemacht hat, kann ungeheure Energieen auslöSen — es kann aber auch einen Aschermittwoch ohne Gleichen geben, wenn nämlich die zu Hause Gebliebenen und doch immerhin Unversehrten, nicht zu dem Gefäß werden, das die tiefst Verwundeten liebevoll um
fängt und ihnen die Möglichkeit des Ausruhens zuglèich mit dem sicheren Bewußtsein gibt, daß das Notwendige geschieht.
Wir brauchen Führer, wir brauchen vor allem solche, die in sich den neuen Typus des politi
schen Menschen, des „Literaten, der nichts mit Literatur gemein hat“, verkörpern. Soll es heißen, daß wir scheiterten, weil die Besten nicht er
kannten, wo sie hingehören und wo ihre Aufgabe ist? Sie werden wissen, wo Sie hingehören, nachdem Sie wissen, wie nötig Sie uns sind, Ludwig Rubinerl
Ich grüße Sie — zugleich im Narrten derer, für die zu sprechen ich mich berufen fühle.
Leipzig, den 14. Oktober 1918.
Recha Rothschild.
Ernst Weiß: Tiere in Ketten Roman S. Fischer Verlag, Berlin, 1918.
Als ich in dem neuen Buch des mir bisher unbekannten Ernst Weiß blätterte und die wienerisch dialektelnden Reden und Gegenreden las, war ich zunächst mißrauisch. Aus Oester
reich ist uns in den letzten Jahren eine Literatur herübergeschwemmt: nicht schlecht, nein nur: so a goldig’s G’schau, so herzallerliebst selbst da noch, wo der Autor düstere Tragik zu geben ver
suchte. — Namen zu nennen, führt zu nichts; es war ein allgemeiner Zug, und nur wenige Aus
nahmen gab es. Ob das jetzt noch in demselben Umfange der Fall ist, weiß ich nicht.
Daß Ernst Weiß’ dazu gehörte, glaube ich nicht, nachdem ich sein Buch gelesen habe.
Dieser Ablauf eines kleinen Dirnenlebens, zuckend, geschüttelt von allen dämonischen Mächten der
Finsternis, gehört zu dem Unsentimentalsten, das mir begegnet ist. — Es ist der Roman des Unter
menschlischen, des Tierisch - Schicksalhaften, das gespenstisch und schwer auf den einzelnen Figuren dieser Dichtung lastet und sie an erbarmungsloser Kette gängelt, blind und düster.
In Franz Michalek, degradiertem Offizier und Bordellbesitzer, äußert es sich als Zustand; in Olga, der Favoritin und später Ausgestoßenen, als Handlung. Sie verläßt das Bordell, das Haus No. 3?, und lebt mit einem schleimigen Rechts
anwalt zusammen. Sie spart, macht Geld durch Wucherzinsen, die sie für Darlehen nimmt, —
und doch ist es nur ein Kreisen von ferne um das Haus No. 37, das wie ein kosmischer Zen
tralkörper Olgas Bahnen lenkt: die Sonne, der ungeheure Magnet, aus dem sie lebt und in den sie zurückstürzt durch Totschlag und Irrsinn hin
durch. Und Michalek, der Säufer, der Hauswirt,
der zwischen seinen Betriebsweibern im Schmutz verdämmert: — ist er es, der sie, Olga, in Ketten hält? . . . Nein, auch er ist einer, der in Ketten liegt, wie auch alle die Weiber um ihn und wie der Rechtsanwalt oder die Mizzi, Olgas Feindin,
auf die sich die Wut der Gehetzten stürzt. Sie alle liegen in Ketten, angemauert an einen Be
zirk, wo keine Sonne mehr scheint und Vernunft nur trüb und dunkel schwälende Flamme ist, einen Bezirk, wo „Gottes Hand nicht hinreicht“.
Die Vorgänge um den Totschlag herum hat Weiß, der einen eignen starken Stil schreibt und Umkehrungen der Syntax liebt, die dem Text oft eine seltsam dunkle Pathetik leihen, mit visionärer Kraft gestaltet. Und die letzten Seiten des Buches (die letzte Nacht, im Zuchthause, im Dunkelarrest) gehören mit ihrer- apokalyptischen Wucht zum Stärksten, das mir durch Epik vermittelt wurde.
Walter Rheiner (Berlin)
Dietrich: Walt Laurent
Vergessen wir die krampfhaft - lächerlichen Versuche eines Piloty, Werner und Menzel, durch Figuren- und Kronleuchterhäufung Ereignisse vorzutäuschen ! Verlassen wir die Verkalkungssphäre sogenannter Objektivität des Sehens, die in Wirk
lichkeit nur ein Außenstehen vom eigentlichen, kosmisch bedingten Leben bedeutet und darum naturalistisch genau oder impressionistisch reflek
tiv Gegebenes plagiiert. Als ob der Strom der Ganga von Ahnengalerien, auf gehalten würde.
Einer, der am Rande eines großen Abgrundmeeres in beständiger Beobachtung der Weltund Himmelszeichen qualvolle Strudel umkreist,
lebt Walt Laurent, abseits dem Alltag fremdester Menschen, von Visionen, die nicht aus plötzlichen Ekstasen geboren sind, sondern die — allzeit um ihn im Raume versammelt — ihm erst zu Ek
stasen — Bildern — Veranlassung geben. Daß weiße Leinwandflächen nach monate- oft jahre
langen Kämpfen erobert, sich öffnen, Fenster ins Geschehen des Allraums. Wo Farben nicht mehr Mittel sind, um Gegenstände zu kolorieren, son
dérn lediglich ihrem Selbst enisprechend, Urträchte raumhaft auftun. Wissend, daß am An
fang das Licht war! Und daß das Licht nicht in einem Raum brannte, sondern sich denselben erst prismatisch erschuf.
Diese Erkenntnis des Lichts — manchmal überwach, sonst allzeit im Unterbewußten hin
flutend, inkarniert sich in Laurents Werken so unmittelbar, daß wir vor denselben aus jeder Stunde und Stimmung in den unheimlich - über
weltgroßen Banne seiner kosmisch-rythmisierten Erlebnisse geschleudert werden: mit derselben Unabwendbarkeit, mit der uns manchmal zwischen hundert vergänglichen Alltäglichkeiten plötzlich das Ewige aus unserem Schicksal entgegentritt.
Eben das ist es, was Laurents völlige Sonderstellung auch unter den Jüngsten begründet, daß er nicht die Tradition zerbricht und neugeschaute Gegenstände gibt, die abermals für später zu
einer Tradition werden könnten, sondern daß er dafür das Ewige und hinter allen Gegenständen die Wesenheiten des Lebens selber gibt. Während aber Kandinsky über das „Geistige in der Kunst“ schrieb, und Campendonk sich in eine neue Orna
mentik auflöste, ging Walt Laurent mit traumwandlerischer Sicherheit, ohne sich je zu mani
festieren, ja fast ohne überhaupt eine breitere Öffentlichkeit von seinem Schaffen wissen zu lassen, immer die Erkenntnis des Lichts im Nacken (nicht auf der Stirn, wie ein bewußterer vielleicht), ging durch Spanien, Paris und die Bretagne, bis er in jenes Bereich gelangte, das er heute als das Kosmische- oder das Raum-Geschehnis bezeichnet.
Raum und Geschehnis (Bewegung, Flucht) sind ihm die beiden Elementarmöglichkeiten. Sein „erstes Bild“ (nach zahllosen Verwandlungen
„erstes Bild“) aber bedeutet mit seinem Titel „Es werde Licht“ die Genesis, aus der Raum und Be
wegung entstanden. Das Licht ist hier wie auch noch stärker in dem etwas später entstandenen „Pilger“ noch als „en-tëte“ vorhanden. Im ersteren strahlt es aus, im anderen zieht es ein
Wesen, eben jenen Pilger, zu sich. Später ist Raum und Bewegung nicht mehr nur Wirkung des Lichts, sondern selbst Lichtgeschehnis. Besonders in seinem jüngsten Kompositionen.
Doch vergegenwärtigen wir uns nun einmal den notwendig gewollten und kosmisch-bedingten
Weg unserer Zeit. Setzen wir zu jenen bereits kristallisierten Begriffen Kubismus (Raum) und Futurismus (Flucht) noch den des Zeitwillens: Expressionismus, so kommen wir auf Umwegen
und Definitionen dahin, wo Walt Laurent ohne jegliche nähere Berührung mit einer dieser Strö
mungen (Zeugnis dafür sind seine Bilder), völlig allein und fast gänzlich unbekannt, mit der
ahnungslosen Sicherheit eines Hellsehers, seit Jahren hinwandelt.
Baader
Sollte nicht unser Oberbewußtsein, oder was wir so nennen, bis jetzt nur ein Blindstück und als solches das Mittel gewesen sein, durch welches
die Leitung der Gotteskomödie „Menschheit“ den ersten Teil dieser Komödie so weit geführt hat, wie er bis jetzt geführt werden sollte?
*
Ja auch „Not“, „Tod“ und „Elend“ könnten für den größeren, sehenden Teil unseres „Ich“ ein völlig Anderes sein und immer gewesen sein, als der blinde Teil sich darunter vorstellte.
*
Schließlich und zuletzt wird einleuchten, daß der Mensch keinen Tod mehr kennt, dem das Wunder „Geburt“ ein Zusammentreten lebend vorhandener Welten zu spielendem Chorgesang ist, denn er findet im „Tod“ nur das Ende des einen Chors und das Bereitgestelltwerden zum Reigen und Weltgesang eines neuen.
*
Es hat angefangen ein neuer Akt der Göttlichen Komödie und sein Leitspruch lautet: „Die Menschen wissen, daß sie im Himmel sind.“
Wo anders sollen wir sein als im Himmel? Nennen Sie mir ein größeres Wunder als das Dasein der Welt und des Menschen!
(Also sprach der Oberdada.)
Club Dada, Berlin-Stegliß, Zimmermannstraße 34.
MENSCHEN.
Literarische Mitarbeiter: Olga v. Adelung, Gerhard Ausleger, Hans Bauer, Bess Brenck-Kalischer, Baader, Kurt Bock, Theodor Däubler, Dietrich, O. S. Diehl, Albert Ehrenstein, Richard Fischer, Herbert Friedrich, Oskar Maria Graf, Alfred Günther, Walter Hasenclever, Raoul Haus
mann, Hans Jaquemar, Georg Kulka, A. Rudolf Leinert, Walt Laurent, Walter Marquardt, Felixmüller, Mynona, H. Phil, Walter Rheiner, Jo Hanns Rösler, Recha Roth
schild, Curt Saemann, Rosa Schapire, Heinar Schilling, Robert R. Schmidt, Paul Staehly, Felix Stiemer, Eugen Styx, Anton Walten.
Graphische Mitarbeiter: Peter August Böckstiegel, Dietrich, Edmund Fabry, Walter O. Grimm, César Klein,
Walt Laurent, Felixmüller, Oskar Nerlinger, Arnold Schmidt-Niechciol, Schmidt-Rottluff, Georg TapperL
Nummer 1—5 sind vergriffen. Der Preis für den vollständigen Jahrgang 1918 beträgt Mk. 10,—, Einzelnummern 6—10 je Mk. 1,—.
Die Zeitschrift erscheint 1919 halbmonaüich. Preis halbjährlich [12 Nummern] Mk. 5.—.
Adresse der Schriftleitung „Menschen“ ab 16. Dez.: Dresden-A., Trompeterstr. 41, (Telefon 20213, nachm.
4—6 Sprechstunde). Alle Einsendungen werden ohne Namensnennung dorthin erbeten.
Druck: B. Abendroth, Biesa. Copyright 1918 by Felix Stiemer Verlag, Dresden.