Organ

der dentSchen Kunstvereine.
	“4eitung
fir bildende Kunst und Baukunst,
	Unter Mitwirkung yon
	Kugler in Berlin — Passavant in Frankfurt — Waagen in Berlin — Wiegmann in Disseldorf — Schnaase
in Berlin — Schulz in Dresden — FGrster in Miinchen — EBitelberger v. Edelberg in Wien
			redigirt von Dr. EF. Eggers in Berlin.
	Montag, den 11. Februar.
	Fragt er sich nach dem Grund dieser zuweilen in der That
befremdlichen Erscheinung, so wird sich zunachst herausstellen,
dass die Zeit der Entslehung eines Kunstwerkes einen grossen
und wesentlichen Einfluss darauf hat, dann die Individualitat
des schaffenden Kinstlers, die sich nicht bloss in der Vorliebe
fir gewisse Gegensténde, sondern weit mehr noch in der Auf-
fassung und Behandlung derselben gelitend macht, endlich aber,
und vor allem in der Nationalitat, welche sich in jedwedem
Kunstwerke abspiegelt. — Gewdhnlich nimmt man an, dass in
Raphael alle Nationen einen Einigungspunkt gefunden haben
und dass dieser Genius tiber aller Nationalitat erhaben dastehe.
In gewisser Beziehung kann man dies gelten lassen, in man-
chem Betracht ist es sogar wahr. Diese Universalitét hat er
auch dadurch nicht erreicht, dass er bei der Frische seines
Schépfungstriebs eine bewundernswiirdige Gabe besass, sich
aus allen gleichzeitigen und 4llteren Kunsterscheinungen das
Beste in einer Weise anzueignen, welche von herzlosem Eklek-
lizismus weit entfernt, vielmehr einer durch Hingebung ver-
mittelten Aufnahme cnispricht. Diesem geistigen Nahrungspro-
cess verdankt er das wunderbar mannigfaltige Spiel seiner
Krafte. Die Assimilationsgabe ist vielleicht bei keinem anderen
Sterblichen in ahnlicher Weise vorhanden gewesen, selbst bei
den Griechen nicht, wenn man diese hochbegabte Nation ihm
wie eine Gesammtindividualitat gegentiberstellt. So wie aber
alles Menschliche seine Grenzen hat, so sehen wir, wie auch
ihm nur dasjenige zuginglich war, was ihm entweder gleich-
geordnet entgegentrat, oder was ihm als untergeordnet zu
freier Verfiigung stand. Nach Michael Angelo’s Werken hat
er nur staunend emporschauen kénnen. Die historischen Dar-
stellungen der Deckenwoélbung in der Sixtina hat er nicht nach-
zuahmen gewagt. Bei dem Versuch, eine der Prophetengestal-
ten jenes Wunderwerkes der Kunst in gleich erhabenem Vor-
trag zu schildern, ist er in den Fall derer gerathen, die wegen
mangelhaften Assimilationsvermégens auf Nachahmung ange~
wiesen sind, ohne das Aufgenommene zu einem héheren Da-
sein zu erheben. Der Jesaias bei den Augustinern ist von
Michael Angelo wohl nur deshalb so gepriesen worden, weil
es das erste und vielleicht das einzige Mal war, dass der
grosse Florentiner sich nachgeahmt sah, ohne zum Zerrbild
geworden zu sein. — Dieses Kiinstlerpaar lehrt uns tibrigens
auch noch einen andern innerhalb der Nationalitét gelegenen
Unterschied kennen, den wir dem Phinomen vergleichen diirfen,
	welches in der Literatur verschiedene Dialekte darbicten, Was
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	Es giebt so wenig eine Universalkunst wie eine Universal-
sprache; jeder Kunstausdruck ist national.
	yh

Ks ist ein allgemein verbreiteter Irrthum, wenn man sich
einbildet, die vollendete Schénheit werde von allen mit glei-
chem Staunen begriisst. Wenn man diesen Satz auf Raphael’s
Werke anwenden hért, so muss man entschieden und zwar
aus Erfahrung widersprechen. Nicht bloss bei Laien, sondern
auch bei Kinstlern kommt der Fall nicht unhdufig vor, dass
sie vor den Originalen selbst mit dieser weltbertihmten Schin-
heit nichts anzufangen wissen. Ja nicht selten hért man sie
in sp6ttische Bemerkungen tiber die vielgepriesenen Ideale aus-
brechen, was man weniger ihrem Geschmack als dem Mangel
an allem tieferen Verstandniss zu Gule halten muss. — Alte
Bilder, auch die wohlerhaltenen, haben immer durch die Zeit
bedeutende Veranderungen erlitten und erschweren daher auch
Geiibteren die richtige Auffassung aller Theile des Vortrags.
Weshalb Manchen moderne Copien die Dienste einer Uebertra-
gung leisten. Kiinstler und Kenner pflegen mitleidig auf solche
herabzuschauen, welche einer derartigen Hiilfe bendthigt sind.
Wer mit der Wissbegierde Ernst verbindet, braucht sich seiner
Bedirftigkeit nicht zu schiimen. Er hat sich vor nichts ande-
rem als vor der Einbildung zu hiiten, etwas selbsténdig zu
fihlen, was er sich hat einreden lassen miissen und — vor der
Eitelkeit vermeintlicher Kennerschaft. Je bedeutender ein Kunst-
werk ist, desto langere Zeit wird erfordert, um zu seinem
wahren und eindringlichen Verstandniss zu gelangen.— Wenn
es nun aber wirklich Jemand durch angeborene Gabe oder
durch Genauigkeit und Fleiss dahin gebracht hat, dass er zu
einer gewissen Gelaufigkeit in der Ablesung schéner und be-
deutungsvoller Kunstformen gelangt ist, so wird er bei auf-
merksamer Selbstbeobachtung sehr bald gewahren, dass die so
erworbene Fertigkeit nur eine beschrankte Anwendung findet.
Wenn er es namlich versucht, sich von Werken anderer Mei-
ster, als die, mit denen er vertraut geworden ist, griindliche
Rechenschaft abzulegen, so wird er sehr bald auf Ziige, ja
auf ganze Massen stossen, fir welche ihm das Verslandniss
entweder ganz abgeht, oder doch so erschwert wird, dass die
Bemihungen um dasselbe mit dem Genuss oder der Belehrung,
die er davon zu erwarten hat, in keinem Verhaltniss stehen.