die Geschichte kennt, ihren Zusammenhang begreift und die erhabene Idee der Entwickelung der Menschheit in ihrer Tiefe und Lebensfiille erfasst und die einzelne That eines Individuums im Lichte der allgemeinen welthistorischen Bedeutung anschaut, wird der nicht ein besseres historisches Gemalde oder eine historiscbe Gruppe liefern, als ein anderer — bei sonst ganz gleicher kinstlerischen Fahigkeit — der sich damit begniigt, das einzelne Factum herauszulesen? Und der, welcher die Macht des religidsen Glaubens, die heilige Weihe des frommen Gemiiths, die Tiefe des menschlichen Gefihls in der Gottesnahe aus der Geschichte und dem Leben kennt und begreift, wird ihn nicht ein héherer Geist bei dem Entwurf zu einem Tem- pelbau leiten, als einen anderen — wiederum mit sonst glei- cher kiinstlerischen Fahigkeit — dem das religiédse Leben fir Geist und Gemith fremd geblieben ist? Kommt es also allent- halben auch bei dem Kinstler auf die Weile und Tiefe der fiussern und innern Erfahrung und Erfassung des Lebens und seiner mannigfaltigen Verhaltnisse an, wie sollte es ihm gleich- giiltig sein kénnen, ob er das innere Leben und das geistige Getriebe in der Sphare seines eigenen Berufes, der Kunst, er- kannt und begriffen hat? Muss er, um irgend einen Gegen- stand aus Natur und Leben in seiner wahren Wiirde darzu- stellen, dessen innerstes Wesen d. i. seine Idee und deren mannigfaltige Gestaltung und Ausdrucksweise in ihrer ganzen ungemessenen Fille durchschaut und erfasst haben, wie viel mehr wird es, um die wahre und héchste Hohe der Kunst zu erreichen, néthig sein, dass er die Idee derselben oder, was dasselbe ist, die Idee des Schénen allseitig zu erfassen und anstatt bei einzelnen Werken, in denen sie sich offenbart, far immer zu verharren, die endlose Mannigfalligkeit der Gestalten und Formen ihrer Erscheinung zu tiberschauen bemtht sei. Un- méglich aber kann ein Mensch in allen Zweigen der Kunst der- gestalt einheimisch werden, dass er aus allen unmittelbar ihr wahres und inneres Wesen zu durchschauen und seinem Geiste anzueignen im Stande ware, — da giebt es nur Ein Mittel: an dem Prisma der Aesthetik, wo sich alle Strahlen der Sonne des Schénen brechen, die ganze Fille ihres Widerscheins zu erkennen. Dr. Lazarus. Stand der Kunst in Miinchen beim Beginn des Jahres 1850. Von Dr. Ernst Forster. (vergl. No. 2.) aus dieser allgemeinen Idee des Schonen oder der Kunst dle Gattungen und Arten ihrer méglichen Darstellung in systema tischer Ordnung zu entwickeln; so entsteht die Frage: was und wozu soll dem Kiinstler dieses — ohnehin oft nur ktinst- liche —- Gedankensystem? Wird er etwa durch eine genaue Kenntniss dieses Systems die bildende Produktionskraft erhdhen und férdern? Wird er dadurch geschickter werden, um fir seinen Stoff allemal die angemessene Form zu finden und diese in jenem auszupragen? Das nun wohl freilich nicht. Nicht um ein Kistler zu werden soll er die Aesthetik kennen, sondern wenn und weil er ein Kistler ist. Hat es namlich iberall und iiberhaupt einen unbezweifelten Werth und ist es seiner Wiirde durchaus angemessen, dass der Mensch iiber all sein geistiges Thun und Schaffen ein klares Bewusstsein habe, so wird auch die Kunst diesen Werth nicht verkennen und der Kiinstler wird diese Wiirde des klaren Bewusstscins iber seine Schépfung gewiss nicht dem Philosophen und Kritiker allein tiberlassen dirfen oder wollen. Wie sehr wir auch davon tiberzeugt sind, dass der Kiinstler in jedem Momente seiner schépferischen Thatigkeit ganz und gar mit ungetheilter Hin- gebung nur der Stimme seines Genius lauschen darf und soll, ohne sich durch ein leidiges Selbstbeschauen seines Thuns sté- ren zu lassen, so miissen wir doch andererseils wiederum auch behaupten, dass es ihm in anderen Stunden wohl angemessen sein wird, an seine eigenen und die fremden Werke mit den- kender Betrachtung sich zu wenden, um an ihnen 2u erfor- schen und zu erfahren: wie und in welcher Art die Macht der Idee dem innern Sinne des Kinstlers sich offenbart und ihn begeistert, wenn sie ihn ausriistet mit der gdttlichen Kraft, den trigen Stoff durch das ideelle geistige Wesen der Form zu beleben. Fassen wir nun eben diesen Gedanken, d. h. die Art, wie der Kistler aus der Idee seine Formen gewinnt, etwas scharfer in’s Auge und sehen wir naher dem geistigen Vorgange und den Bedingungen des kinstlerischen Schaffens zu, dann wird sich noch ein anderer Grund finden, dem Kinstler das Studium der Aesthetik zu empfehlen, der um so bedeutender ist, als er uns die Gewissheit giebt, dass jener von diesem auch eine hohere Befihigung zu erwarten hat. Wie sehr wir namlich auch geneigt sind zu glauben, dass eine gréssere Uebung im begrifflichen logischen Denken wenig dazu beitragen méchle, die kinstlerische Schwungkraft des Geistes zu erhéhen und zu erweitern, dass es vielmehr fir das achte, reine, hohe Schaffen im Gebiete der Kunst wesentlich und unmittelbar nur zwei Factoren giebt: die technische Fertigkeit, den materiellen Stoff regelrecht zu behandeln, auf der einen, und die héhere, von allem bewussten Reflectiren entfernte, geniale unmiltelbare Produktionskraft des Geistes und der Phantasie auf der andern Seite — so kann doch auch nicht geléugnet werden, dass ein verschiedener Bildungsgrad, ein verschiedener Standpunkt der geistigen Cullur des Ktnstlers eine Verschiedenheit, wenn auch nicht der specifischen Vollkommenheit, so doch gewiss der Rich- tung und Bedeutsamkeit seiner Werke zur Folge haben wird. Hine genaue weilgreifende Kenntniss der Naturwesen, welche nicht nur ihren ausseren Bau kennt, sondern auch ihr Leben und Wachsen, ihre Regung und Bewegung stels vor Augen und in der Seele hat, ein reiches Wissen von der Geschichte der Menschheit, verbunden mit einem innigen Begreifen der verborgenen Triebfedern ihrer Handiungen, eine lebendige An- schauung von der Hohe und Tiefe des menschlichen Wesens und eine fleissige Beobachtung der dusseren Spiegelbilder die- ser innen wirkenden Machte, — das sind gewiss unbestritten kraflige Hebel, den kiinstlerischen Genius zu unterstiitzen. Und wird nicht der, welcher nicht blos irgend eine Geschichte, sondern Bildhauerei und Erzgiesserei. Das colossalste Werk deutscher Bildhauerkunst, Schwan- thaler’s Bavaria, naht sich der Vollendung in der Erzgiesse- rei. Gegossen ist jetzt auch der letzte Theil des Lowen, nur wenige Stiicke sind noch zu ciseliren und der Tag der Auf- stellung ist festgesetzt: es wird der diesjahrige Namenstag des Kénigs Ludwig (25. August) sein, und jedenfalls durch irgend ein grosses Kinstlerfest verherrlicht werden. Die Halfte der Figur steht im Hof der Giesserei und neugierige Kunstfreunde steigen auf einer engen Treppe in ihren Kopf, in welchem, gut geschichtet, 25 Personen Platz haben. Ringsum stehen colossale Léwen, das Viergespann jener Victoria, die auf der Plattform des Siegesthores aufgestellt werden wird. Man ist gegenwarlig mit dem Formen dieser, von Marlin Wagner in Rom modellirten, Gestalt beschaftigt. Entgegengesetzt der in stolzer Ruhe thronenden Victoria auf dem Brandenburger Thor in Berlin, ist diese in starker Bewegung aufgefasst, mit flie- gendem Gewand, den Siegeskranz in vorgestreckter Hand hal- tend; nicht sehr fein in den Formen, aber Iebendig und schon