wie selbst bei Raphael’s heiliger Margaretha im Louvre, die
dadurch bekanntlich im aussersten Grade angegriffen wurde,
den Charakter der Originalitat ohne Weiteres auszuléschen. Be-
ruhigen wir uns also auch hiebei, so weit wir es vermégen,
und halten wir andrerseits an der Bemerkung fest, wie die
Schlesinger’sche Kopie in Allem, was Auffassung, Behandlung,
Sonderbarkeiten und Mangel anbetrifft, eine so charakterische,
in sich tibereinstimmende Eigenthimlichkeit hat, dass wir die-
selbe doch nicht fiiglich auf Rechnung etwaniger Stérungen der
urspriinglichen Beschaffenheit des Originales, und ebenso we-
nig, wie es scheint, auf den elwanigen Eigenwillen des Ko-
pisten, dessen Meisterschaft in sonstigen Leistungen der Art
tberdies zur Gentige bekannt ist, setzen diirfen. Ist Hr. Pro-
fessor Schlesinger, wie es allerdings der Fall sein dtrfte, be-
miiht gewesen, bei der Ausfiihrung der Kopie von den ohne
Zweifel vorhandenen zufalligen Stérungen des Originales abzu-
sehen und dasselbe in méglichster Integritat wiederzugeben, so
werden wir ihm auf Grund seiner langjahrigen reiflichen Er-
fahrungen auch hierin einigen Glauben schenken und die Kopie
— soweit dies iberhaupt bei einer Kopie zulassig sein kann —
zur Basis, ich will nicht sagen: eines absoluten Urtheils, aber
doch einer nicht unbegriindeten Hypothese tiber die kiinstle-
rische Stellung des Originals nehmen diirfen.

Dass die Composition der Kreuztragung, in dem Zusam-
menfassen der darin enthaltenen Momente, in der dramatischen
Eutwickelung der Handlung, in der, bei dem Hoéhenverhiltniss
des Bildes doppelt schwierigen Anordnung und Gruppirung, eine
der genialsten Conceptionen Raphael’s ist, bedarf hier keiner
Auseinandersetzung. Ich wiirde nicht blos das Urtheil mehrerer
Jahrhunderte, ich wiirde das Urtheil eines jeden, fiir Kunst
irgend empfinglichen Gemiithes: unbericksichtigt lassen, wollte
ich dem widersprechen. Ich habe also nicht néthig, hierauf
weiter eingugchen; ich wende mich vielmehr zu der Art und
Weise, wie diese Composition in der Ausfihrung des Bildes
individuelles Leben empfangen hat. So sehen wir denn in dem
ausfithrenden Kiinstler zundchst einen solchen, der die geistigen
Anforderungen der Composition allerdings wohl zu wiirdigen
im Stande war. Der Kopf des Simon von Cyrene, der dem
niedergesunkenen Erléser das Kreuz abzunehmen im Begriff ist
und sich mit lebhaftem Unwillen gegen die brutalen Schergen
wendet, ist im Ausdruck voll ergreifender Energie; der Kopf
Christi verréth ebenfalls ein tiefes Gefiihl, wenngleich mir die
von friiheren Berichterstattern (z. B. Mengs) geriihmte Idealitat
desselben hier nicht so gar entschieden entgegengetreten ist.
Bedeutend ist ferner der Ausdruck in den Képfen der Gruppe
der heiligen Frauen; aber ег erscheint hier schon nicht vollig
frei entwickelt; es ist etwas Maskenartiges darin, das sich im
Einzelnen selbst zu manierirten Motiven steigert. Bedenklicher
wird es, wenn wir die Aeusserungen kérperlicher Thatigkeit
in den einzelnen Gestalten, und noch mehr, wenn wir das Ge-
fiige des kérperlichen Organismus in denjenigen, die gerade
mit Energie korperlich handeln sollen, betrachten. Schon die
so edel und grossartig componirte Gruppe der Frauen hat in
mehrfacher Beziehung etwas Starres; die vorderste, die der
niedersinkenden Mutter des Erlisers unter den linken Arm greift,
kniet in ziemlich steifer Stellung und hebt den Mantel tiber
dem Haupte der Maria mii ebenso steifer wie kleinlicher Hand-
bewegung empor; Johannes, hinter der Maria, scheint lebhaft
bewegt, ohne doch zu einer Aeusserung seiner Bewegung 2u
kommen; seine Arme verlieren sich hinter den Schultern der
Maria, ohne dass man sieht, was er beabsichtigt, ja ohne dass
er, wenigstens mit dem linken Arm, tberhaupt im.Stande wire,
in die Bewegung der Gruppe einzugreifen. Simon von Cyrene
und der im Vorgrund befindliche Scherge zeigen eine Machtig-
	keit der Muskulatur, die an prunkvolle Ostentation streifl, die
aber leider mehr blendet, als nachhaltig wirkt. Simon hat in
den Maassen des Oberkérpers, namentlich der Arme, ein ver-
haltnissloses Uebergewicht tiber die unteren Theile des Unter~
kérpers!); die Richtigkeit der Muskulatur in seinen nackten
Theilen ist mir sehr bedenklich, der rechte Oberarm z. B. setzt
in ziemlich monstroser Weise gegen die Schulter an und er-
scheint dadurch steif. Auch der Scherge im Vorgrund scheint
mir in den Kérperverhiltnissen nicht ganz richtig; jedenfalls
werden bei seinem Unterkérper die An— und Einsitze der Glie-
der und der einzelnen Muskeln mancherlei Bedenken unterliegen,
und muss dies entschiedener zu der steif schwebenden Stellung,
in der er sich том seiner ungestiimen Bewegung befindet,
beiiragen, als der an sich geringfiigigere Umstand, dass sein
linker Fuss ohne eine Schattenwirkung die Erde beriihrt?*).
Dann sind die Hinde fast durchgehend hart und eintinig, be-
sonders die des Erlésers, Simon’s und des Schergen hinter
diesem. Ausserdem ist noch zu bemerken, dass der wunder-
liche, langgestreckte, schreiende Mauritanier im Hintergrunde,
der in die kleine Liicke zwischen den beiden Hauptgruppen des
Vorgrundes eingeschoben ist, die Composition nicht eben in
wohlgefalliger Weise ausrundet; und dass die hinteren Partieen
des aus dem Thore hervorkommenden Zuges, die Halbfiguren
der Reiter und Hiniges, was wie Pferderticken aussieht, kei-
nesweges eine klare, dem ausftihrenden Kinstler recht bewusste
Composition verrathen, dass hier vielmehr ein nur ziemlich
willkiirliches Zusammengefiige sichtbar wird, ahnlich wie bei
den Fiillstiicken in den nach Raphael’s jugendlichen Compositio-
nen ausgefihrten Fresken der Libreria des Steneser Doms.
Wenn wir hienach die in den Hauptziigen so meisterhafte
Composition durch einen Kiinstler ausgefiihrt sehen, der aller-
dings, in geistiger wie in kérperlicher Beziehung, eine frap-
pante Wirkung erstrebte, ohne doch der dazu erforderlichen
Mittel Herr zu sein, so werden wir durch mancherlei Beson-
derheiten naher auf seine eigenthiimliche Richtung hingewiesen.
Die Composition, ich wiederhole es, ist unbedenklich raphae-
lesk, die Hauptziige des Einzelnen ebenso. Dies und Jenes
aber ist trotzdem weder im Charakter Raphael’s, noch in dem
seiner Schule, zum Theil nicht einmal in dem der damaligen
italienischen Kunst. So tragt der Scherge hinter dem Simon,
der das Kreuz mit der Linken niederdriickt und mit der Rechten
eine Lanze erhebt, cine hellblaue Tunica (beilaufig von un-
schon kleinlichem Gefalte) und dartiber einen hellrothen Ober-
rock mit nordisch zugeschnittenem Fallkragen, ganz in der
Weise, wie wir Aehnliches aus Bildern des Lucas von Leyden
und seiner Richtung gewohnt sind. Der Turban auf dem Haupte
des einen Reiters kénnte etwa an Eigenthiimlichkeiten der fer-
raresischen Schule, kann mit diesen aber eben so gut an nor-
dische , besonders niederlandische Elemente erinnern. Die reich-
lich und in verschiedenen Mustern angewandten Goldsdume der
Gewander deuten ebenfalls vorzugsweise nach Norden; so auch
die etwas ungeheuerlich gebildeten Pferdeképfe, die in densel-
ben breiten und rundlichen Formen in mehr als einem nordi-
	1) Man sagt vielleicht: er stehe vorniibergebeugt, sein Oberkorper sei
dem Beschauer naher, sein Unterkérper ferner und perspektivisch verkirat.
Ich bitte, die Stellung nachzumachen und sich dadurch zu tberzeugen, wie
wenig hiebei von Vor- und Zuricktreten und von Verktrzung die Rede
sein kann.

2) Die obige Bemerkung ist, wie ich mich nachtraglich nach Herr
Schlesinger’s naherer Darlegung wberzeugt habe, unrichtig. Der Scherge
setzt den linken Fuss hinter eine klcine Erderhéhung, die, mit ihrem Saum
die Ferse des Mannes streifend, den Schatten verdeckt. Aber ist nicht auch
ein solches Arrangement, dessen Rathsel sich erst nach besonderem Studium
	list, bedenklich?
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