Rutile,
	Organ
der deutSchen Kunstvereine.
	4eitung
fir bildende Kunst und Baukunst.
	Unter Mitwirkung von
	Kugler in Berlin — Passavant in Frankfurt — Waagen in Berlin — Wiegmann in Disseldorf — Schnaase
in Berlin ~ Schulz in Dresden — FGrster in Minchen — Hitelberger v. Edelberg in Wien
			redigirt von Dr. F. Bggers in Berlin.
	Montag, den 22. April.
	heber dieser schénen Vision gewesen ist. Indem wir damit die-
jenige Erscheinung, welche alle als ein der Sitte der Zeit zu-
folge unvermeidliches, hier durch seine treffliche Behandlung
ertrigliches, ja selbst erfreuliches Beiwerk anzusehen pflegen,
zur Hauptsache gemacht haben, sind wir auf historischem Grund
und Boden angelangi, und wenn wir diese leibhafte Gestalt scharf
ins Auge fassen lernen, so werden wir nicht blos mit dem
Sinn veriraut, in welchem das Ganze angeschaut sein will, son-
dern wir erhalten durch sie auch ein sichreres Zeitenmaass, als
es die noch so genaue Bestimmung einer Jahreszahl gewdhren
kann. — Bevor wir das Portrat als Zeitenmesser ins Auge fas-
sen, wird es zundchst zweckmissig sein, es in Bezug auf die
dargestellte Handlung einer genaueren Priifung zu unterwerfen.
Alles nun, was sich von der Innigkeit der Andacht, welche der
Betende wahrnehmen lasst, sagen liesse, wiirde die Vorgange
seiner Seele oder vielmehr die feste Einheit seiner Stimmung
nicht so treffend charakterisiren kénnen, wie der naheliegende
Vergleich einer ahnlichen, nicht weniger bedeutenden, ja noch
weit eminenteren Portratdarstellung des Raphael, welche sich
mit einer ganz gleichnamigen Situation beschiftigt. In der Messe
von Bolzena hat der knieende Pabst seine Blicke in gleicher
Weise auf die Gegenwart der Goitheit im Messopfer, wo sie
sich diesmal sogar durch ein Wunder offenbart, gerichtet, wie
hier der Donatar auf die рег den Wolken erscheinende Ma-
donna mit dem Christuskinde. Aber welche Verschiedenheit des
andachtigen Anschauens! — Vergleiche diirfen nie zur Haupt-
sache gemacht werden. Deshalb kehren wir rasch zu unserem
Bilde zuriick und suchen uns von der Inbrunst einen genauen
und richtigen Begriff zu bilden, welche der knieende Cardinal
wahrnehmen lasst. Diese gewahrt cin erhabenes und ein erhe-
bendes Schauspiel. Wir begegnen nirgends dem Spiel einer
voriibergehenden Empfindung. Der Charakter des Betenden tritt
uns scharfkantig wie ein Krystall und durchsichtig wie dieser
entgegen. Der Unterschied, welcher das philosophische Erken-
nen dem religidsen Glauben unverséhnlich gegeniiberstellt, ist
aufgehoben. Der Rapport zwischen dem Gegenstand der héch-
sten Erkenntniss aus dem menschlichen Bewusstsein ist wieder
hergestellt. Das Gebet offenbart sich in seiner ganzen und
héchsten Wunderwirkung, nicht Giter von aussen herbeizau-
bernd, die doch am Ende auch nur verginglicher Art sind,
sondern jene Befriedigung unmittelbar herstellend, die der
Mensch auf tausend Wegen zu erreichen sucht. Wie sich Gott
	in Schwachen méachti 1
g erweist, was es hei i
: eisst im Gebet An-
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	Die Erscheinung, welche der Gegenwart zundchst liegt,
bietet den Stiitzpunkt fiir jede weitere Untersuchung dar.
	Nicnt blos im Leben, auch in der Kunst sind wir eines
festen Punktes bendthigt, um Gegenstinde, die der Gegenwart
und diesem Leben fern liegen, sicheren Blickes. und richtig
aufzufassen. Es ist ein grosser und beklagenswerther Irrthum,
wenn man glaubt, es geniige, die Kunstschéne wie die flichtigen
Bilder einer Laterna magica an sich voritber gehen zu lassen.
Die Kunst im Gegentheil ist durchaus rationell und kann daher
auch nur bei einer rein rationellen Auffassung richtig verstan—
den werden. In dem gegebenen Fall pflegt der Betrachtende
freilich meist unmittelbar auf die glanzendsten Momente der Dar-
stellung loszustossen, sich an den hervorstechenden Schénheiten,
	die daselbst gehauit liegen, sich auch wohl zu berauschen, 2и- 
	letzt aber immer nur ein sehr zerrissenes Bild in der Seele
hinwegzwtragen. Wahre Befriedigung kann auf diesem Wege
nicht erreicht werden. Um diese vorzubereiten, muss man that-
kraftig und handgreiflich zu Werke gehen. Fasst man sich zu
einer solchen realistischen Auffassungsweise ein Herz, so darf
man hoffen, auf den Schwingen des Genius in jenen héchsten
Regionen wirklich anzugelangen, die sein Kunstwerk als solche
offenbart. — Wer auf den Gipfel eines hohen Berges unver-
merkt gebracht wird, hat nur einen sehr schwachen Genuss
von jenem Hochgefiihl, das uns zu Theil wird, wenn wir die
steilen Héhen nach und nach erklimmen. Ebenso ist die Freude
an irgend einer Kunstschéne nur sehr zweideutiger Art, so lange
wir dieselbe nicht durch ein schrittweise vorbereitetes Ver-
standniss begriindet haben. Diese Begriindung bewerkstelligt
der praktische Kunstler auf andere Weise als der in Anschauung
versunkene Freund des Schénen. Wenn jener durch feines Be-
tasten der Formen zu einem unvermittelten und unmittelbaren
Verstindniss von deren Inhalt gelangt, so muss derjenige, wel-
cher ausschliesslich auf die Beriihrung durch den Gedanken an-
gewiesen ist, einen dialcktisch-analytischen Weg cinschlagen.
Obwohl nun dieser in den verschiedensten Richtungen ge-
fihrt werden kann, so wird die beste doch immer diejenige
sein, welche uns am seltensten 2u rickgingigen Bewegungen
zwingt. Fiir die Madonna di Foligno wird der sicherste Aus-
gangspunkt daher der am Boden knieende betende Mann sein,
der durch seinen frommen Sinn auch materieller Weise der Ur-