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	aus eine Gruppe zurecht baut, der Schdnheit und Wahrheit zu~-
gleich vor den Kopf stésst.

Das mangelhafte Durchdenken des Lebens, diese Tragheit
der umsuchenden Phantasie tragt die Schuld, dass das ganze
Gebiet des Genre so diirftig angebaut ist. Denn dass die Phan-
tasie den Bildhauern iiberhaupt ausgestorben sei, ist Gottlob!
erlogen. Sie liegt nur in einem dumpfen Halbschlummer, bis

die Allegorie kommt und sic riittelt. Und dann greift sie
mit den noch schlafirunkenen Augen oft nach dem Allerver-
kehrtesten.

Allegorie, sagten wir. Die Kiinstlichkeit, mit der die mo-
derne Bildung auf ihre Licher die buntfarbigsten Lappen ge-
flickt hat, hat es zu verantworten, wenn wir fiir eine ganze

Klasse von Kunstwerken keinen schlagenderen Namen zu finden
wissen. Wir leben nicht mehr in den glicklichen Zeiten, wo
die Religion dem einfachsten Menschen einen Katechismus der
Kunst-Symbolik an die Hand gab, wo es nur darauf ankam,
bei neuen Schépfungen die alten Zeichen verstandig zu com-
biniren, um verstindlich zu sein. Aus einem halben Dutzend
Mythologien sind uns einige Dutzend Gestalten und Attribute
geliulig geworden, dem einen diese, dem andern jene, und es

“ist ein eben so grosser Zufall, wenn ein symbolisirendes Bild-
werk verstanden wird, als wenn zwei Menschen, die von der-
selben Sprache jeder einige Brocken aufgefischt haben, zufallig
dieselben Brocken erhaschten.

Denn eine Sprache ist allerdings die Symbolik, aber heut-
zutage oft die Sprache Talleyrands, die dazu dient, Gedanken zu
verbergen. Oder hatte der Freiherr von Printz sich uns
verstandlich machen kénnen ohne den Dolmetscherdienst des
Katalogs? Das eine seiner beiden runden Basreliefs stellt eine
Schaar spielender Kinder dar, die in der Luft neben einander
schweben. Zwei zornige Biirschchen balgen sich wacker ab
und werden yon einem weiblichen Genius, der mit seinem un-
thatigen mannlichen Geféhrten die Kinder beaufsichtigt, zur Ruhe
gewiesen. — ,,Und das findet man undeutlich? Nichts ist klarer,
als dass dieses Bild tiber der Pforte einer Anstalt fiir verwahr-
los’te Kinder, oder auch einer blossen Kleinkinderbewahranstalt
aufgestellt werden soll. Und wenn das nicht, so wird es irgend
einem Gymnasium zur Zierde dienen, und der Jiingling neben
dem weiblichen Wesen deutet auf den Director, der sich auf
den Genius der Pidagogik stiilzt.~ — Aber das zweite Relief,
das augenscheinlich den Gegensatz bilden soll, drei Reiter mit
wilden Geberden und Fackeln? — ,Nun? und das ware ver- _
wickelter zu lésen? Wer begreift nicht, dass es die bésen Fol-
gen der Nachlassigkeit darstellt, mit der manche Eltern ihre
Kinder nicht zur Schule halten. Da wachsen sie denn zu wil-
den Rangen auf, die Mordbrennereien treiben und den ganzen
Tag auf dem Pferde Неоеп.“ — Gut. Das gabe Alles einen
leidlichen Sinn. Aber wie tibersetzt nun der dolmetschende Ka-
talog diese doppelsinnige Sprache? Er sagt: Zwei Basreliefs,
Krieg und Frieden darstellend. Haben wir uns nun unserer
prosaischen Deutung zu schimen, oder muss Herr von Printz
roth werden? Wir entscheiden hier nicht, weil wir Partei sind.
Aber so viel wissen wir, dass die Rathsel schlecht sind, die
doppelte Lésung aulasscn. Und hier hat der Kunstler nichts ge-
than, um uns gleich von vorn herein auf die poetischere zu
bringen, auch in der Ausfihrung nicht, denn die Kinder sind
nicht bless im Scherz verwahrlos’t zu nennen, und cin seltsam
mohrenhafter Typus ist allen Gesichtern eigen. Ferner aber
diinkt uns auf dem Relicf des Krieges die Composition schon
	im Grobsten mangelhaft, indem der miltiere Reiter kiimmerlich
zwischen die andern eingeklemmt und fast um eine Kopflinge
niedriger angeordnet ist.
	Es ist keine Bosheit, wenn wir переп фе$ missrathene
	nen, obwohl mit dem Wort idyllisch nichts Schéfermassiges be-
zeichnet sein soll.) Aber wie Viele irren noch in unwirthlichen
Wiisten, ohne das Kanaan zu schauen, das doch so nahe liegt!
Mit schlichten Worten, die Zahl solcher Werke ist diesmal ge-
ring gegen die, welche Stoffe anderer Art behandeln. Wir er-
wihnen zuerst Wichmanns , Wahrsagerin* (Gypsmodel).
Eine anmuthige Gruppe zweier hibscher Madchen, yon denen
die eine die Wahrsagerin spielt. Denn aufrichtig gesagt, so
gut sie die Gesten eines Zigeunerkindes nachmacht, fchlt ihr
doch gerade so viel Hexenhaftes und Abenteuerliches zu ciner
ernsthaften Wahrsagerin, als dem andern schénen Kind Spannung
und Aberglauben zu einer ernsthaften Zuhérerin mangelt. Kurz,
es gebricht dem Werke an dem, was gerade dem Genre. Noth
Ши, ап praégnanter Charakteristik, die allen Humor einer Si-
tuation liebevoll ausbeutet. Die Poesie des Vorganges ist nicht
zu ihrem Recht gekommen, so dass es erscheint, als sei sie
erst gelegentlich und nachtraglich hinzugekommen, als der Ktinst-
ler, der eine Madchengruppe bilden wollte, um die Haltung der
Arme verlegen gewesen. Hiitte er diese Arme, die so zierlich
sind, sich einfach innig umschlingen lassen, so wiirden , die
Freundinnen“ erreicht haben, was der , Wahrsagerin nicht ge~
lingt — uns zu erwirmen. Ueber das Machwerk ein Wort
verlieren, wire ein Zweifel an Wichmann’s Talent. Nur der
eine, schon frither bemerkte, Missgriff, dass er Gewandung an-
bringt, die nur fest liegt, wenn sie aus Einem Stick mit dem
Korper besteht, verdunkelt in etwas die Reinheit der Arbeit. —
E. Wolf s ,,spinnendes Madchen in Marmor“ entbehrt nun aber
jener Schénheit der Linien, die uns bei dem Wichmann’schen
Werk fiir so Manches entschadigt. Wir fordern alle kleinen
Madchen Europas — die tiirkisehen vielleicht ausgenommen —
zu dem Versuch auf, ob sie in dieser Stellung einen Faden von
nur einer halben Elle zu Stande bringen kénnen. Das wunder-
liche Lacheln der kleinen Spinnerin macht den Eindruck, als
habe sich das lebende Model des Kiinstlers tber das gelungene
Kunststiick gefreut, die Glieder nach den kiimmerlichen Massen
eines beliebigen Marmorblocks in diese Lage zu zwingen. Aber
wie muss ihm das Steifhalten des kleinen Riickens sauer ange-
kommen sein! Wir bedauern, dass all diese iiberwundenen
Schwierigkeiten und der viele Fleiss des sonst glicklichern Mei-
sters einen so wenig erquicklichen Erfolg gehabt haben.

H. Berges’ Marmorstatue eines Madchens, welches bei Ab-
legung des Gewandes in die Ferne blickt, hat ein einfaches,
schickliches Motiv, das durch die tiber den Augen gehaltene
Hand Gelegenheit zu einem hiibschen Spiel des Schattens gab.
Nur ist dem Kinstler an dem sonst tberaus fleissig modellirten
schlanken Korper die Brust vielleicht zu hoch gerathen, wodurch
eine langweilige Leere bis zur Hiifte entsteht. Tadelloser ist
G. Friihs Schmetterlingsfanger (von Fischer gegossen und ci-
selirt). Ob er auf diese Art — die in der Plastik scheint ty-
pisch geworden zu sein — yiel Beute bei seiner Jagd machen
	wird, 1st gar zweielhatt. Indessen kommt es auch hier auf die
	Schmetterlinge weniger an, als auf die jugendlichen Gestalten,
die in der Attitiide des Beschleichens immerhin eine eigene An-
muth entwickeln.

Caspar Miller hat eine Genovefa im Model ausgestellt,
die uns vollig misslungen scheint. Die Mutter ist noch leidlich
wohlgestalt, aber ihr Kind eine wahre Missgeburt, und die Hirsch-
kuh hat einen Hals wie ein Pferd. Zudem ist es widernatiirlich,
dass die Mutter den Saugling am Euter der Hinde so sich selbst
liberlassen und nicht vielmehr niederknien sollte, ihm das Ge-
schaft zu erleichtern. Warum wendet der Kiinstler nicht die
geringe Mihe der Phantasie auf, einen Vorgang véllig durch-
zudenken. Wie viel neue Beztige wirden ihm aufgehen, an-
statt dass er jetzt, wo er von einem augenblicklichen Einfall