Dewllehes Zeitung Organ der deutSchen Kunstvereine. Unter Mitwirkung von uglier in Berlin — Passavant in Frankfurt — Waagen in Berlin — Wiegmann in Diisseldorf — Schnaase in Berlin — Schulz in Dresden — FéGrster in Minchen — Eitelberger v. Edelberg in Wien 1550. _ №96 redigirt von Dr. ЕР. Eggers in Berlin. Montag, den 1. Jul. so machtig? -- Weil hier echt christlicher Geist weht, aber christlicher Geist unseres Jahrhunderts und der Zukunft, vom Gétilichen geschwingerte Menschlichkeit, Schmerz einer Mutter um einen Sohn, den sie ihr eigen weiss, ohne Wunder ihr eigen und darum nur wunderbarer. Kein gipserner Heiligen- schein stért unser Mittrauern durch den Gedanken, dass sie et- was mehr sei als eine Mutter. Und da ist tiberhaupt Nichts, das uns stérte, keine hastige Geberde der augenblicklichen Leidenschaft des Grams, die auf die Linge zur Fratze wird, kein Zug in dem schénen abgeharmten Gesicht, der nicht zy dauern verspriche, so lange der Schmerz dauert. Dies Ver- sunkensein in die todte, starre Ewigkeit des Gramens, dies Anschaun des geliebten Angesichts, von dem kein anderer An- blick sie losreissen kann, diese zusammengepressten Hande, die einander nicht lassen wollen, denn sie haben ja nichts mehr zu umarmen — es ist das Héchste von Ausdruck, was je erreicht werden kann. Und wie ist dieser Todtenfeier der Liebe ein Sohn werth, auf dessen entseeltem AnUitz noch die Priester- schaft der edelsten Liebe verklart ist! Nicht die Wundenmaale riihren uns, kein magrer Leib, keine Dornenkrone zerreisst un- ser Inneres, sondern dass ein solcher Mensch seine Mutter nicht tiberleben durfte. Dies sind einzelne Tropfen aus der Flut von Empfindungen, die das herrliche Werk iiber uns ausgoss. Sie werden uns bei Manchen in den Geruch der Schwarmerei bringen, denn dass ein Kritiker fein niichtern bleiben miisse, ist ja hergebrachter Glauben. Als ob unsereins, so viel die Pfuscher und Impo- tenten von Natterzungen reden, nicht auch ein Mensch wire, der halb von Sinnen kommt, wenn ihm das Bild zu Sais ent- hallt wird, dass er das Geheimniss der Wahrheit mit Augen schaut. Aber wir wollen es jenem Aberglauben zu Gefallen thun und ganz trocken hinzufiigen, dass diese Gruppe nicht meister- licher durchdacht, als ausgefiihrt ist. Gewandung und Nacktes ist tadellos bis ins geringste Theilchen durchgearbeitet. Das alte Schulwort, Schonheit sei Einklang von Inhalt und Form, wie weite Grenzen darin dem Begriff gesteckt sind, hier ist es an seiner Stelle. Werden in Deutschland, wo doch noch manche Christen und viele Kunstbegeisterte leben, die Mittel nicht aufzutreiben sein, um dies Werk in Marmor ausfihren zu lassen? Wenden wir uns nun zu den Werken, die geschicht- liche Themata behandeln, so ist vor Allen H. Schievel- 96 Die Bildwerke der diesjaéhrigen Berliner Kunstausstellung. (Schluss.) An Darstellungen, die aus der klassischen Mythe entnommen sind, ist nicht viel Erhebliches zu erwahnen. Mit artigen Amorn und Bakchantinnen (von A. Bréunlich, Franz Friedrich und Fr. von Printz) werden wir immer noch bedacht, und das ist auch ganz in der Ordnung, denn diese Gestalten der alten Mythologie haben etwas unverwistlich Ju- gendliches fiir alle Zeiten. Julius Franz’s Victoria verliert gar zu sehr in der Nachbarschaft der Rauch’schen Kranz- werferin. Mag dicse dem Kistler ihren Kranz ,fir seine Kithnheit* zuwerfen. Die Skizze einer Bakchantengruppe von demselben Kiinstler hat wenig vom bakchischen Taumel, mehr von der Lustigkeit rheinischer Winzer. Bianconi, Wolgast, Zinnert und Dietrich haben saubre Copien nach bekannten Meisterwerken ausgestellt. Noch ist ein Relief von Franz Friedrich zu erwahnen, welches die bekannte Probe der Kraft darstellt, die Theseus vor seiner Mutter ablegen muss. Dass uns diese sehr tiichtige Arbeit ziemlich kalt lasst, liegt in dem Stoff, der fiir uns nicht das geringste Interesse hat. Beiliufig scheint uns die Stellung des jungen Heroen nicht ganz geeignet, um auszudriicken, dass er den Stein gehoben hat. Es sieht vielmehr aus, als wolle er den aufgerichteten Block mit einem Anlauf auf die Mutter walzen, was auch das nachflatternde Ge- wand wahrscheinlich macht. — Ein Relief von J, Alberty in Birnbaumholz, nach der Antike vergréssert, tiberfalstafft den trun- kenen Silen ein wenig zu arg. Eine so dickfaltige Haut kann nur die Elephantiasis hervorbringen. Sagen wir es nur gleich heraus, dass wir unter allen Werken, die diesmal christliche Stoffe behandeln, nur Augen hatten fiir Rietsch!’s Pietas. Eine christliche Niobe, in aller Demuth und allem Stolz des Schmerzes um einen solchen Sohn! Wie hier die uralte Geschichte, jetzt misshandelt im Frohndienst der Bigotterie und vor klapperdiirrer Азсезе widerwarlig, jetzt siisslich kokett fiir das Betzimmer ciner fromm gewordenen Courtisane herausgeputzt, von zahllosen Pfuschern und Meistern hin- und hergewendet und — so dachten wir — hinlanglich abgegriffen, — wie diese uralte Geschichte lebendig vor uns steht, als wire sie gestern geschehn, erschiitternd, als hoérten wir dayon heut zum ersten Male! Und warum wirkt dies Bild