601165
	A4eitung
fiir bildende Kunst und Baukunst.
	Runs Tole.
	Organ
der deutschen Kunstvereine.
	Unter Mitwirkung von
	Kugler in Berlin — Passavant in Frankfurt — Waagen in Berlin — Wiegmann in Disseldorf — Schnaase
in Berlin — Schulz in Dresden — FG6rster in Minchen — Eitelberger v. Edelberg in Wien
	redigirt von Dr. F. Eggers in Berlin,
	AE

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Montag, den 20. Januar.

1851.
	Ueber den Begriff des Dramatischen in der bildenden Kunst,
mit besonderer Beziehung auf die geschichtliche Malerei.
	Von Erast Guhl.
(Schluss.)
	ben, sich zu entschlagen sucht; in ihr findet weder die in-
dividuelle Leidenschaft Platz, indem, wie Hagen einmal sagt,
vielmehr die allgemeine Heiligkeit alles Individuelle vernichtet,
noch dirfen iiberhaupt weltliche Zwecke in diesen Bereich dber-
weltlicher interesseloser Abgeschlossenheit Eingang finden, in-
dem dadurch gerade die wesentliche Eigenthiimlichkeit der hei-

ligen Kunst als solcher gefahrdet, wo nicht aufgehoben wer-
den wiirde.

Nun besteht aber die ganze Entwickelung der_heiligen
Malerei in der allmalig fortschreitenden Aufnahme jener welt-
lichen Elemente, in der Annadherung zur Darstellung der Hand-
lung, in dem Werden zu einer dramatischen Malerei; die
	Vollendung der heiligen Kunst besteht in ihrer Verweltlichung,
	welche selbst durch die Aufnahme des Dramatischen bedingt
ist. Der erste Fortschritt, den die neuere Malerei durch Cimabue
und Giotto gemacht hat, beruhte zum gréssten Theile mit in der
Aufnahme der Handlung in den Bereich einer bis dahin nur die
	unbewegte Heiligkeit tberweltlicher Charaktere darstellenden
Kunst. Cimabue und nach ihm Giotto setzten die ruhende
Wesenheit dieser Charaktere in Bewegung; die Bewegung aber,
die reale Aeusserung der ruhenden Innerlichkeit ist die That,
die Handlung. In der Darstellung der Handlung erfasste somit
die Malerei zum ersten male das Princip ihres eigenen Wesens.
Darum beginnt denn auch die Geschichte der modernen Malerei
mit jenen beiden Meistern und der weitere Fortschritt der hei-
ligen Malerei basirt auf nichts anderem, als auf der Durchbil-
dung dieses neuen Elementes der Handlung, auf dessen Ver-
schmelzung mit den ubrigen Interessen der kirchlichen Kunst.

Daher der Drang nach neuen, bewegten Darstellungen, in denen
das dramatische Element sich auf eine immer freiere und unbe-
	hindetere Weise offenbaren konnte. Die altchristliche Kunst
begniigte sich mit der isolirten, gleichsam statuarischen Dar-
stellung ecinzelner Figuren, Gott Vaters, Christi, der Engel und
Heiligen, und sie stellte dieselben, eben um ihre ginzliche Be-
zugs- und Zusammenhangslosigkeit mit der wirklichen Welt zu
bezeichnen, auf eine gleichgiltige, alle Wirklichkeit negirende
Fliche (Goldgrund), wahrend die entwickelte Kunst sie in eine
lebendige, wirkliche Welt, in eine natirliche Umgebung hinein-
zieht. Die Vorginge der heiligen Geschichte, wie die Kreuzi-
gung z. B., werden nicht als Handlungen, sondern als ausser-
zeitliche, ruhende Situationen dargestellt, wahrend die spateren
Meister diesen Gegenstand zum héchsten dramatischen Ausdrucke
	steigern; chen so werden Mutter und Kind in der alten Kunst,
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	So ist also die Malerei ihrer innersten und eigentlichsten
Natur nach vorzugsweise zu einer dramatischen Darstellung be-
fahigt; sie, die wesentlich dramatische unter den bildenden
Kiinsten. Wie sollte nun also wohl der Begriff der Handlung,
des Dramatischen, ein der Malerei ungiinstiges Element in sich
schliessen? Wie ist es erlaubt, eine dramatische Auffassung
der Malerei fir unméglich zu erklaren, wenn man nicht von
dem gréssten Missverstandnisse des Dramatischen selber
dabei ausginge? Vielmehr stellt sich nach diesen Vorbe-
merkungen nun die dramatische Form der Malerei als diejenige
dar, welche die eigentliche Wesenheit derselben am reinsten
und vollstandigsten zur Erscheinung bringt, gleichwie man dies
vom Drama in Bezug auf die Poesie behaupten kann. Denn
die dramatische Malerei wird diejenige sein, welche den Be-
griff der Handlung in seiner ganzen Bedeutung und in der voll-
endetsten Harmonie seiner beiden Momente zur Darstellung
bringt, wahrend die epische und lyrische Formen der Malerei
vorzugsweise bald das Moment der blossen Aeusserlichkeit,
des Geschehenen, bald das entgegengesetzte der blossen In-
nerlichkeit, des Gewollten, der Empfindung hervorheben.

Fragt man nun, auf welchem Gebiete der Malerei, in wel-
	chem Kreise von Gegenstanden die dramatische Darstellung ih-_
	ren eigenthimlichen Platz finde, an welchen Stoffen sie sich
am volistandigsten entwickeln kénne, so liegt es sogleich sehr
nahe, dass der Kreis heiliger Gegenstande seinem urspriingli-
chen Wesen nach sich fir diese Auffassung am wenigsten eigne.
Die ideale Ruhe, die tberweltliche Abgeschlossenheit, welche
iiber ihren Gestalten ausgebreitet ist, verhindert von selbst jene
innige Durchdringung der weltlichen Aeusserlichkeit und der
Tiefen des aufgeregten, sich in seiner ganzen Machtigkeit of-
fenbarenden Gemiithes, welche die dramatische Auffassung cha-
rakterisirt. ,Erst wenn die individuelle Leidenschaft,*
sagt Hotho hieriber, ,in ihrem Konflikte weltlicher Zwecke
den Inhalt abgiebt, gewinnt die dramatische Form nachdriick-
liche Geltung“. Gerade diese Elemente aber sind es, deren
die heilige Kunst, will sie ihrem eigentlichen Wesen treu blei-
JL. Jahreang.