мала.
	Organ
der deutschen Kunstvereine,
	“4eitung
	fiir bildende Kunst und Baukunst,
	Unter Mitwirkung von
	Kugler in Berlin — Passavant in Frankfurt — Waagen in Berlin — Wiegmann in Disseldorf — Schnaase
	im Berlin — Schulz in Dresden — FGérster in Minchen — Eitelberger у. Edelberg in Wien
	redigirt von Ог. Е. Ессегз ш Вега.
	AM 6.

 

Montag, den 10. Februar.
	Den Anfang des Kunststudiums macht man am besten mit
einem reichhaltigen, aber therschaulichen Werke.
	Das Verstindniss vereinzelter Figuren ist nicht unhaufig
schwieriger, als das von einer griésseren Reihe unter einander
eng verbundencr Gestallen. Denn von diesen erlautert eine die
andere, withrend eine fiir sich allein dastehende Persénlichkeit
aller Ankntipfungspunkte fiir’s erste entbehrt. Eines derjenigen
Gemalde, welche rasch mitten in die Sache hineinzufiihren ge-
eignet sind, ist die ,Madonna von Fuligno“, eines derjenigen
Werke Raphael’s, in deren Lobpreisung die verschiedensten
Geschmacksrichiungen zusammenlaufen. Diese herrliche Farben~
schépfung versetzt uns zunachst durch ihr prachtvolles Colorit
in eine wahrhaft feierliche Stimmung. Wir meinen die Gren-
zen eines héheren Daseins tberschritten zu haben. Wir be-
finden uns dem gedfineten Himmel gegeniibes, und doch ist
der Kiinstler bemtiht gewesen, unseren Blick an die Erde zu
fesseln: die Aussicht auf eine wahrheitsgetreu geschilderte Land-
schaft macht erdenheimathliche Schnsucht in uns rege. Diese
Leibhafligkeit der Darstellungsweise gelangl zu ihrem hdchsten
Ausdruck in der Gestalt des am Boden knieenden, mit gefal-
teten Hainden nach der heiligen Jungfrau emporschauenden Man-
nes, dem der h. Johannes der Taufer die himmlische Erschei-
nung mit jenem bedeutungsvollen Fingerzeig anzudeuten scheint,
mit welchem er in den Tagen der herannahenden Herrlichkeit
auf das Lamm Golles hingewiesen hatte. Und so wie der Pre-
diger in der Wiiste auf die Offenbarung der Zukunft die Blicke
der Glaubigen lenkt, so ist der heilige Hieronymus in dem An-
staunen .der kundgewordenen Gnaden versunken, deren Wun-
der er den Kindern der Kirche ausdeutet. Die Vermiltelung
aber zwischen Himmel und Erde ist durch den herzigen Engel
vollendet, welcher eine schwere Tafel mit beiden Handen tragt,
auf welcher man gewéhnlich die Inschrift eingezeichnet voraus-
selzt, welche den Stifter dieses schénen Altargemildes nam-
haft mache. — Diese erste fllichtige Auffiihrung der Elemente,
welche diese bei der grossartigsten Einfachheit so reichhallige
Ideenverbindung zeigt, ist nun freilich kaum hinreichend, um
die Ausgangspunkte des Nachdenkens zu fixiren, welches von
hier aus die verschicdensten Richtungen einschlagen muss, um
mit denjenigen Erfabrungen zu dem tiefsinnigen Bilde zuriick-
zukehren, ohne welche die Kunstbetrachtung entweder nur zu

IL Jahrgang.
	Huchligem Genuss oder zu eitelem Geschwatz filrt. Ein ge-
iibter Kenner freilich wird alles, was er zum Verstandniss der
einzelnen Theile néthig hat, aus dem Bilde selbst zu entneh—
men wissen. Hier aber handelt es sich gerade darum, das,
was jener unbewusst besilzt, mit Methode und wachen Sinnen
zu erwerben. Zu solchem Ende werden wir, nachdem wir den
Gesammlinhalt, so gut es hat gehen wollen, festgestellt haben,
die einzelnen Erscheinungen als solche in der einen oder der
anderen Bezichung mit verwandten Darstcllungen vergleichen miis-
sen. Wenn wir dadurch in Gefahr gerathen, das herrliche Kunst-
werk in Sliicke zu zerreissen, noch bevor wir das Ganze voll-
kommen in Uebersicht genommen haben, so dirfen wir ander-
seits hoffen, die nun genau erforschten und vertrautgewordenen
Theile zu einem ganz neuen Gesammtbild zusammentreten zu
sehen. — Der gewohnlichen Ansicht nach wiirde es sich dabei
um zweierlei handeln: namlich um die Auffindung der Schén-
heiten des malerischen Vortrags und um das Verstandniss des
Ideengehalts, welcher hier verborgen liegt. Eine solche Tren-
nung aber ist keineswegs sachgemdss. Der angehende Kunst-
student wird daher gut thun, sich die Beseiligung oder Nicht-
beriicksichtigung des einen dieser beiden Interessen unter kei-
ner Bedingung zuzugestehen, und demnach beides zumal ins Auge
zu fassen, obwohl er sich von vorn herein sagen muss, dass
ihm das technische Element allezeit zum mindesten in der Weise
fremd bleiben wird, in welcher uns eine Sprache nie vollkom-
men geliufig wird, die wir sprechen und schreiben zu lernen
entweder keine Gelegenheit, oder kein Talent haben. So wie
wir aber, wenn es sich um das genaue Verstdndniss eines
Dichters handelt, die Sprache, in der er seine Gedanken nie-
dergelegt hat, grammatisch erlernen miissen, so wird es uns
auch bei dem eindringlicheren Studium von Werken der bil-
denden Kunst nicht erlassen, die Bedingungen des kiinstleri-
schen Ausdrucks, wenigstens auf dem Wege der Vergleichung,
dem Gefihle geliufig zu machen. — Das gewahlte Beispiel
bietet uns nun den Vortheil dar, eine Menge wichliger Punkte
zur Sprache zu bringen, welche, ohne cine solche zweckliche
Bezugnahme, kaum angesprochen werden dtirften, indem ein
jeder ein unerschépfliches Thema darbieten wirde. Denn wir
haben eine ganze Stufenleiter von Begriffen vor uns, die mit
der niedrigsten Aeusserung des kiinstlerischen Darstellungsver-
mégens beginnt und bis hinauf zu den Regionen des reinsten
Idealismus und in diese hineinreicht. Wir sind also dadurch
	in den Fall gesetzt, uns von einer Reihe von Begrillen Rechen-
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