5
	14551. Indem hierdurch das mehr dekorative, anmuthigere Ele-
ment der Sdule beschrankt und auf gleiches Maass mit dem mehr
construktiven, strengeren des Pfeilers zurtickgedrangt wird,
ergiebt sich eine Gesammlwirkung, die zwischen beiden die
gliickliche Mitte halt, dem Eindruck eines Gedichtes zu ver~
gleichen, an welchem mamnliche und weibliche Reime gleichen
Antheil haben. Besonnener, bewusster, geselzmissiger gestal-
tet sich der Plan des Grundrisses; aber mit der Gliederung
des Grundrisses nicht zufrieden, steigt der ktinstlerische Ge-
danke empor und macht die ersten geistvollen Versuche, auch
die monotonen Wandflachen und die Ueberdeckung des Raumes
organischer zu belcben. Zunachst entfernt sie jenen Horizon-
talsims, der mit seiner slrengen Linie wic ein Bann lastend die
Bogenbewegung auf die Arkaden allein beschrankte; hier nun
wird jenc bekannle Anordnung erfunden, welche von Feiler
zu Pfeiler in der Wand des Miltelschiffes eine Bogenverstérkung
schligt, mit derselben jedesmal zwei Arkadenbogen itberspan-
nend; hier endlich wird auch frith schon die Ueberwélbung des
Schiffes aufgenommen und somit dem Prinzip des Halbkreis-
bogens der ganze bauliche Organismus unlerworfen.

Diese Form, in asthelischer wie constructiver Hinsicht der
oben erwihnten so weit tberlegen, wurde dennoch, als die
Entwicklung der Architectur mit Riesenschrilten weiterging, ver~
lassen und scheint bei der nachmaligen Ausbildung ohne merk-
lichen Einfluss gebliecben zu sein. Warum? Wurde etwa von
aussen her, von Nordfrankreich, das dem dstlichen Nachbar-
lande cbensowohl seine Ménchsorden wie sein Bausystem zu-
schicktc, ein so starker Impuls gegeben, dass vor demselben
die althergebrachie vaterlindische Gewohnhcit des Bauens zu-
riickweichen musste? Solche Erklirung méchte doch nicht ganz
geniigen, Vielmehr scheint die Saule doch immer dem nord-
deutschen Geiste elwas Fremdartiges geblieben zu sein; hatte
er ihr auch in dem kubischen Kapital und dessen nordisch-
phantastischen Verzierungen einen durchweg eigenthiimlichen
Kopf gegeben: in den letzten Zeiten des romanischen Styles
machte sich doch, gleichsam wie ein famen usque recurret,
vorzugsweise die antikisirende Kapitélform wieder geltend; ja_
von der angestammten attischen Basis halte man sie nie los-
trennen kénnen, so fest wurzelte sie ihrem innersten Wesen
nach in der Baukunst des Stidens. Wohl war daher jene schéne
Form der Umbildung die héchste Stufe, welche der kiinstlerische
Genius dem fremden Elemente abringen konnte; als er sich aber
zu der noch héheren Conzeption eines consequent durchge-
fiihrten Gewélbebaues anschickte, da musste mit den allen
Ueherlieferungen durchaus gebrochen und ein neues System
adopiirt werden. Das war der Pfeilerbau.

Wahrend namlich jene beiden Combinationsformen von Saule
und Pfeiler, die in diesen Gegenden fast ausschliesslich nur
bis Ende des 11. Jahrhunderts angewandt worden, in dem gan-
zen niedersachsischen Gebiete !) sporadisch neben cinander vor-
kommen, ohne dass man einen wechselseitigen Einfluss, ein
Herrschen und Vordrangen des einen oder des andern nach-
weisen kénnte, entstcht mit dem 12. Jahrh. das System blosser
Pfeilerstellungen — nur in einzelnen Fallen friher —, welches
bald jene alteren Anordnungen beseitigt und den Gewdlbebau
anbahnt. Man weiss, wie diese Pfeilerbasiliken, streng und
primitiv beim ersten Auftreten, bald eine reichere construktive
Belebung und Gliederung der Stitzen, analog mit den aus die-
sen emporsteigenden Gewdlbrippen, gewannen. Eine Reihe von
interessanten Belegen zu diesen Entwickelungsstufen sind in
den Bauten von Goslar, der Frankenbergerkirche, der

 
	1) Wenn ich von niedersichsischem Gebiet rede, so nehme ich die
Theile, wo der Ziegelbau herrscht, aus.
	 

Marktkirche und der Klosterkirche Neuwerk, bereits
anderweitig besprochen. Weniger bekannt diirfte eine ahnliche
Gruppe sein, welche die Gegend von Braunschweig aufweisl.
Diese werden zunachst in Folgendem dargestellt werden.

Von Braunschweig an in éstlicher Richtung sich hinziehend,
findet sich, auf den engen Raum weniger Quadratmeilen zusam-
mengedrangt, eine verhaltnissmissig bedeutende Anzahl von
Kirchen, die durch mancherlei wesentliche Eigenthimlichkeiten
so genau zu einander gehdren, dass wir sie unter dem Namen
eines braunschweigischen Styles zusammenfassen kénnen.
Ohne Ausnahme Pfeilerbauten, schliessen sie jede andre Form
der Basilika aus und bilden dadurch eine so compakte Gruppe
verwandter Anlagen, wie wir sie auf dem ganzen Gebiete Sach-
sens nicht wiederfinden. Fir eine solche Erscheinung werden
wir weder den Zufall, noch das Material als endgtiltigen Grund
annehmen diirfen; vielmehr scheint in diesen Gegenden der
Sinn tiberhaupt ein ernster, strenger gewesen zu sein, wie
denn hier auch sehr frih schon die Reformation machtig Boden
gewann, wihrend das nicht ferne Hildesheim, wie es einst,
mit Ausschliessung der Pfeilerbasilika, seinen alten Sdulenbau
beibehielt, auch spater, den iberlieferten religidsen Anschau-
ungen treu, das Lutherlhum nur zum Theil annahm. Frtih schon
verzichten die braunschweigischen Kirchenanlagen auf den dunk-
len, myslischen Graberdienst der Gruftkirchen; die Krypta fehit
ihnen durchweg ). Mit ihr schwand auch die unorganische
bedeutende Bodenerhéhung des Chores, der nun, in den eng-
sten architektonischen Verband mit der Gesammt-Anlage ge-
zogen, auf construklivere Weise durchgebildet werden konnte.
Im Uebrigen sind die wesentlichen Merkmale dieser Kirchen
Beschrankung des ornamentalen Elementes, Vorwiegen des Con-
strukliven, Massenhaften; Strenge in der genauen Durchfiihrung
der einmal angenommenen Maasse und Verhiltnisse; meisten-
theils ungewéhnliche Linge des Langhauses und mehrfach grad-
liniger Chorabschluss.

Die Phantasie ist also, verdrangt durch das Geselz streng
architektonischen Schaffens, durch das Walten des slalischen
Prinzips, auf ein Minimum zuriickgefithrt. Dass dies Absicht
ist, trilt am klarsten bei der Kirche in Konigslutter zu Tage,
die bei aller Grossartigkeit der Anlage doch niichlern zu nen-
nen ist im Vergleiche mit dem Kreuzgange, unbedingt einem
der prachtvollsten der Welt. Ueberhaupt bleibt ein gewisser
Ausdruck von Ernst und Strenge auch den spiiteren dieser
Kirchenanlagen eigen, und selbst die durchgebildetsten unter
ihnen kommen an Reichthum der Ausfihrung denen anderer
Gegenden nicht gleich. Dafiir aber werden wir entschadigt
durch eine der consequentesten, steligsten Entwicklungen des
einmal adoplirten Systemes, welche es uns méglich macht, fiir
jede neue Stufe der Ausbildung mindestens ein Beispiel auf-
	Zzufuhren.
	Eiupferstichwerk.
	Wandgem tide im Saale der ersten Kammer des Stinde-
hauses xu Carlsruhe von M.v. Schwind. Nach den
Cartons gestochen und herausgegeben von A. Krieger
und T. Langer. Dresden bei den Kiinstlern. Leip-
zig bei Rud. Weigel. 1848. Fol. Pr.: 3 Thir.
	Es begreift sich leicht, wie man darauf kommt, den Saal
eines Slindehauses mil den allegorischen Figuren der Tugenden
	1) Die Krypta des braunschweiger Doms, der bekanntlich um 1171 von
Heinrich dem Lowen erweitert und umgebaut wurde, kam als Erbtheil der
alten Aniage in den Neubau hiniber.