Dewltches 4eltung fiir bildende Kunst und Baukunst. Огдап der deutSchen Kunstvereine. Unter Mitwirkang von Kugler in Berlin — Passavant in Frankfurt — Waagen in Berlin — Wiegmann in Diisseldorf — Schnaase in Berlin — Schulz in Dresden — FOrster in Minchen — Bitelberger v. Edelberg in Wien redigirt von Dr. EF. Eggers in Berlin. .Л@ 18. 7 - : Sonnabend, den 3. Mai. 1851. Das Auge muss sich gewOhnen, die Spuren der Zerstérung eher zu ertragen, als sie voreilig aufzusuchen. Daren nichts wird das Verstandniss und der Genuss alter Kunstwerke mehr gefahrdet, als durch die Sucht, sich in der Nachweisung der Verderbnisse und Herstellungsversuche ge- schickt zu erweisen. Weit ntitzlicher wiirde es sein, sich in der Deulung haibverloschener Ziige zu iiben. Am besten aber \hut man immer, wenn man vorerst von den Bemiithungen der Reslauratoren in soweit Nutzen zu ziehen sucht, als durch die~ selben die rasche Uebersicht von Kunstwerken crmdéglicht wird, vor denen wir entweder ganz zuriickschrecken wiirden oder deren Construirung uns doch weil mehr Zeit wegnehmen wirde, als wir gemeinhin darauf zu verwenden im Stande sind. Die Madonna di Fuligno wiirde ohne die Bemtihungen der Franzosen ganz ungeniessbar geblieben sein, und wenn auch der eine und der andere Kenner sie in ihren unberihrten, aber verwiisteten Zustand zuriickwiinschen méchte, so ist doch die Wirkung weit héher anzuschlagen, welche sie gegenwarlig auf die, Kunst- eindriicken zugingliche, Menge macht. — Wenn wir nun bei wachsender Vertrautheit mit cinem solchen Kunstwerk uns von seiner urspringlichen Schénheit und Frische einen Begriff ver- schaffen wollen, so erreichen wir dies keineswegs dadurch, dass wir die von Grund aus wiederhergestellten oder itibermalten Stellen aufsuchen — was an sich eine missliche Operation ist, bei der sich selbst erfahrene Augen leicht téuschen — sondern vielmehr durch die Fixirung derjenigen Glanzpunkte, welche von der Zeit und von Menschenhinden am meisten verschont geblieben sind. Zu diesen gehért nun vor Allem der durch die Klarheit seiner Farbung aus dem Bilde hervorleuchtende Kopf des h. Hieronymus, welcher uns einen Vorgeschmack ge- ben kann von der Pracht und Frische des Tones, die sich ur- spriinglich iber das ganze Bild verbreitet haben missen. Jelzt sind diese hervorstehenden Eigenschaften nur auf einen sehr begranzten Raum beschrankt, und sobald wir uns mit der Wir- kung dieser Partieen vertraul gemacht haben, fahit sich der Blick, in dem Augenblick, wo er mit den weniger erhaltenen Theilen des Gemaldes in Bertihrung kommt, schr unangenelhm tiberrascht. Von der urspriinglichen Frische des Colorits kann uns auch die Fussspilze des h. Johannes, welche hinter dem h. Franziskus zum Vorschein kommt, einen Begriff geben. Sie Ul, Jahrgang. trill uns wie eine von der Sonne bDeieuchtete Stelle aus dem Bilde entgegen. Und so hat es mir auch scheinen wollen, als ob die eine Hand des Taufers, welche nach der Madonna em- porzeigt, besonders glicklich erhalten ware. Gegen den Arm dieser Figur gehalten, ist sie’s gewiss, da dieser fast ganz neu 151, Gerade aber diese Restauration muss uns mit Respekt er- fallen, und es lasst sich kiithn behaupten, dass keine einzige antike Statue so geschickt und befriedigend wieder hergestellt worden sei, wie diese Figur, obwohl dieselbe wahrhaft ver- wiistet und zum Theil zerbréckelt gewesen sein muss. Denn an dem Gesichtsausdruck Jasst sich dieses deutlicher noch wahr- nehmen, wie an der hineingemalten Stelle des Arms. —- Diese Andeutungen werden Denen genigen, welche Ruhe und Geduld genug haben, um sich in das schéne Gemalde in der Art zu verliefen, dass sich vor ihren Blicken wenigstens theilweise der Schleier liiftet, welchen die Zeit dariiber geworfen hat. Wer ihn mit Gewalt hinwegreissen und unter Anwendung einer selbstsiichtigen und hochmiithigen Kritik zur urspringlichen Schénheit hindurch dringen will, pflegt bei deren Leiche anzu- langen und geniesst nur den hasslichen Eindruck der Zerst6- rung. Ueber diesen aber soll uns die wissenschafUiche Be- trachtung eher hinweghelfen und uns so kostbare Reste, eben weil es die letzten Ueberbleibsel der verlorenen Schéne sind, auf die rechte Weise wiirdigen lehren. Dies ist aber nur dann moéglich, wenn wir uns jedes vorschnellen Urtheils enthalten und uns lieber unserer Unwissenheit bescheiden, statt uns vor der Zeit weise zu dinken. — Um zu der richtigen Auffassung des Charakters der Madonna und zum Verstaindniss der Hand- lung, in welcher das Christuskind dargestellt ist, zu gelangen, kénnen wir den unvergleichlich schénen Stich des Mark Anton zu Hilfe nehmen, welcher diese Gruppe allein liefert. Wir ersehen daraus, wie grossartig und ernst Raphael die h. Jung- frau gedacht gehabt hat und dirfen danach abnehmen, wie viel von den jetzt noch im Bilde vorhandenen Zigen hineingekom- men sein mag. Denn es ist eben so wenig anzunehmen, dass Mark Anton den Raphael an Grossartigkeit der Auffassung tber- troffen habe, als dass dieser hinter seinen eigenen Entwirfen so weit zurtickgeblieben sei. Es bedarf aber in der That nur weniger Ausdauer, um auch hier das Urspriingliche von Zu- thaten neuerer Hand zu trennen, zumal dieselben mehr zaufallig slérend, als wesentlich alterirend wirken. Das Behaben des Kindes wird auch uns erst mit Hiilfe des erwahnten Stichs recht verstindlich. Es schaut mit verwunderter Begierde hinab auf 18