als ein in der Zeit oder im Volke herrschendes Formgetfuhl.
So ist z. B. die Gothik die Durchfiihrung der Gewdlbeconstruc-
tion unter der Herrschaft der Vorliehe fir die Verticale. Die
Neuzeit steht auch sehr sichtbar unter der Herrschaft cines
solchen Formgefiihls, sie mag Strassen bauen oder Slidte an-
legen, Offentliche oder Privathauser auffihren, sie mag monar-
chisch oder republikanisch denken, das ist die Freude an der
»schénen graden Linie*, an der Symmetrie, an der Einerlei-
heit, an der nicht nur in der Baukunst widerwartigen , Egalité“.
Einen neuen Baustyl kénnte kein grésseres Missgeschick treffen,
als dieser Gewalt sich fiigen zu miissen. Die neuesten Er-
scheinungen auf dem Gebiete der Baukunst lassen diesen Aus-
gang nicht befiirchten; vielmehr tritt fast tiberall in Deutsch-
land eine Vorliebe fiir mittelalterliche Style hervor, an denen
die Mannigfaltigkeit einer der Hauptcharakterztige ist. So sehr
dies Bestreben erfreuen muss, so ist es doch nicht ohne Ge-
fahr fiir die Interessen der Gegenwart. Diese wiirden jeden-
falls von einem Bauslyl verletzt werden, der nicht auf die freie
Entwickelung und hohe Ausbildung Riicksicht nihme, welche
Malerei und Skulptur in unsern Tagen gewonnen haben und
der ihnen nicht eine dieser Ausbildung entsprechende Theil-
nahme an der Vollendung eines Bauwerks sicherte. Dass aber
die deutschmittelalterliche Baukunst mit ihrem Pfeiler- und
Strebpfeilersysteme und den Hohlkehlenportalen auf die dar-
stellenden Kiinste sehr nachtheilig eingewirkt, ist durch unsere
Kunstgeschichte und Kunstdenkmale in Vergleich schon mit de-
nen Italiens ausser Zweifel gestellt. Allerdings ist ein sehr
sichtbarer Unterschied zwischen den kirchlichen und den well-
lichen Bauten des deutschen Miltclallers, bei welchen letzteren
z. B. der Spitzbogen weniger gebrauchlich ist, wihrend die
Form des flachen Bogens — gewiss eine, sehr reicher und
neuer Entwickelung fahige Bauform! — mehrfache Anwendung
findet und sich wie von selbst darbietet.

Bei weitem wichtiger, als die verschiedenen architektoni-
schen Formen, die, wenn der cigenthtimliche belebende Geist
fehlt, ohne alle Wirkung verbraucht werden, erscheint mir fir
die Neugestaltung der Baukunst ein den héchsten geistigen Be-
strebungen der Neuzeil entsprechendes, dem Egalité-Verlangen
entgegenarbeitendes, immer allgemeiner werdendes Formgefiih]
zu sein, nimlich das fiir naturgemisse Entwickelung und
Gliederung, in Folge davon fir Gruppirung, und zwar
nicht nur im Einzelnen fiir Gruppirung der Charakter gebenden
Theile eines Gebiudes, sondern ganzer Gehiude. Die Haupt-
wirkung der neuen Baukunst wird in Baugruppen
liegen! Wer daran zweifelt, den weise ich nach Hamburg,
wo schon gewéhnliche Wohnhdauser in allen Gréssen und Bau-
formen, mit nur wenigen, aber allerdings verstindigen gemein-
samen Merkmalen, in drei Reihen um das Alsterbassin gestellt,
den Eindruck einer grossarligen Bauanlage machen. Nun denke
man sich erst monumentale Bauten an solcher Stelle, oder suche
sie auf, etwa in Paris. Dort auf dem Place de Ia Concorde
mit seinen Obelisken, Brunnen und Statuengruppen, mit der
Aussicht auf die Deputirtenkammer, die Tuillerien, die Mini-
sterien (des Krieges und der Marine) mit der Magdalenenkirche
im Hintergrunde, die elyseischen Felder mit dem grossen Tri-
umphbogen des Etoile, wird es nicht schwer werden, tiber die
eigentliche Aufgabe der Baukunst in unsern Tagen zur Klarheit
und vorkommenden Falls zu Entschliessungen zu kommen. Sieht
man sich — um auf die Einladung zurickzukommen — in Miin-
chen um, was bei dem Reichthum der Neubauten noch zu
wiinschen wire, so finden wir als dringendstes Bedirfniss den
Bau eines Schwurgerichishofes; wir schen die Kreisregicrung
ohne ein ausreichendes Lokal, die meisten Ministerialgebaude
(ehemalige Kléster) unzulinglich und, was gewiss nicht vor-
	man theilweise bezeichnen das Streben nach Fretheit, treier
Entwicklung und zwangloser Uebung aller physischen und mo-
ralischen Krafte. Die politischen und socialen Verhiltnisse,
welche ganz besonders den Unterschied der Bauwerke der Zeit
nach begriinden, sind andere geworden und lassen ganz andre
Bauwerke als friher entstehen.“.

Welche anderen Bauwerke sollen nun entstehen? welche
Aufgaben entsprechen dem Genius der Neuzeit, wie die Tem~
pel dem griechischen, die Dome dem romantischen? Hier ste-
hen wir an dem Gegenstand der Preisaufgabe: dem Bau einer
héheren Bildungs- und Unterrichts~ Anstalt. Ohne Zweifel neh-
men die Interessen der Bildung und des Unterrichts eine sehr
wichtige Stelle in der Verwirklichung der Idee des Staates ein,
und mit vollem Rechte werden sie bei ktinstlerischen Unter-
	nehmungen ins Auge gefasst. Ob sie aber der Kunst das.
	elgentiicne Fruchtkorn in die Hand geben, oder vielmehr von
der allgemeinen Ernte ihr Theil erwarten, méchte zu bedenken
sein, da sie zu den Gesammibestrebungen der Zcit sich unge-
fahr verhalten, wie im Miltelalter die Interessen des Kloster-
lebens zur Kirche, von welcher dieses nicht nur die Regel,
sondern auch die Bauform erhielt. Werfen wir aber einen
Blick auf die grossen Bewegungen der Neuzeit, von den Re-
volutionen in England und Frankreich im 17. und 18. Jahrhun-
dert bis zu den deutschen Marzstiirmen von 1848: der vor-
nehmste und fast ausschliessliche Beweggrund ist tiberall der-
selbe: Schépfung eines Rechtszustandes. Wir wollen
Sicherheit der Person und des Eigenthums gegen Unrecht und
Willkir, Herrschaft des Gesetzes bei Theilnahme des Volks an
der Gesetzgebung und am Rechtsspruch. Das ist das Ziel und
dahin strémen, wenn auch oft noch aufgehalten und zu Win-
dungen gedringt, die Gedanken der Zeit. In der That ist aber
damit auch der Kunst der Weg angewiesen, der Stoff in die
Hand gelegt; das Bediirfniss liegt vor Aller Augen: das Haus
fir Volksvertretung und der Schwurgerichtshof. Ich
tibergehe, was sich daran schliessen kann an Gebiuden fir die
obersten Staatsgewalten, fiir die Ministerien, Regierung u. s. w.
und glaube nur auf den Reichthum an kiinstlerischen Motiven
aufmerksam machen zu miissen, der hier schon in den mate-
riellen Bedingungen liegt. Wem aber der Stoff arm und un-
fruchtbar erscheinen sollte, der nehme Plan und Aufriss einer
altchristlichen Basilica zur Hand und frage sich, ob er dieser
Saulenhalle mit kahler, hoher Wand und offener Dachriislung,
sammt ihrem Anbau einer halbrunden Tribiine den Célner Dom
ansieht, der doch zuletzt daraus hervorgewachsen? Und sollte
es wohl ein blosser Zufall sein, dass der machtigste Slaat un-
seres Erdtheils, Grossbritannien, seiner Hauptstadt den grisslen
und schénsten Schmuck verlich in unsern Tagen im Bau des
Parlamentshauses? So mégen denn Miinchen und Berlin, Wien
und Wiesbaden sich in Vorarbeiten versuchen fir die heimi-
schen Bediirfnisse, bis wir im vollendeten Style der Neuzeit
ein deutsches Parlamentshaus bauen und in ihren Schwurge-
richtshéfen die Anlagen machen zu dem Gebaude eines ober-
sten deutschen Gerichtshofes! Denn beide werden einst ge-
baut, trotz Conferenzen und Differenzen!

Was nun den Styl betrifft, in welchem gebaut werden soll,
so habe ich meine Ueberzeugung schon ausgesprochen, dass
er das Produkt der Aufgabe ist, und dass er in dem Maasse
neu sein wird, als sie dem Genius der Zeit entspricht. Den-
noch mochte ich mir einige Andeutungen erlauben, zu denen
die Einladungsschrift die Veranlassung gicbt. — Das Wesen
des Styls liegt nicht in den Verzierungen, wie grossen Theil
auch daran Phantasie, Gemtith und Vaterlandssinn haben. Aus-
ser der Construction, welche die Wurzel jedes Styles ist, hat
nichts so bedeutenden Einfluss auf die Gestaltung dessclben,