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	tuhlten, gestattele dem Meister nicht, den regelmassigen Gang
einzuhalten; er beeilte sich daher im sechsten Jahre, die her-
kémmlichen Einfassungswande des inneren Chorraumes aufzu-
richten, schloss dann die noch offene Ostseite der Chors durch
eine hdlzerne Mauer, und machte es so méglich, dass schon
im Jahre 1180 cine Weihe erfolgte und Kapitel und Ménche
ihren Einzug halten konnten. Die folgenden Jahre waren nun
dem weiteren Ausbau der Krypta und dem dusseren Theile ge-
widmet, im neunten Jahre trat wegen Geldmangels eine Stockung
ein, im zehnten aber war dieses Hinderniss beseitigt und der
Bau wurde vollendet.

Dieser Bericht, ohne Zweifel die wichtigste schriftliche Ur-
	kunde der Baugeschichte des Mittelalters und in vielfacher Be-
	ziehung lehrreich, giebt uns eine Anschauung des ganzen Her-
gangs bei solchen Bauten; cr zeigt, dass um diese Zeit die
Kunst schon ganz in die Hande der Werkverstandigen aus dem
Laienstande tbergegangen war, dass die Geistlichen und Monche,
einzelne Ausnahmen abgerechnet, sich dabei nur als Bauherren
verhielten, er gewalrt aber auch ein Zeitmaass fir die Fort-
schritte solcher Baulten, wenn anders die Miltel vorhanden wa-
ren. Selbst einzelne Ausdriicke dieses Berichts sind wichtig,
weil sie erkennen lassen, auf welche Eigenschaften des Ge-
biudes man Werth legte, wie man die Formen desselben be-
trachtete. So gebraucht Gervasius schon das Wort: Triforium
und erklart es ausdriicklich als eine Via, einen Weg in der
Mauer, so dass der historische Ursprung dieser Form aus der
wirklichen Galerie schon vergessen und nur die Brauchbarkeit
ins Auge gefasst war. So nennt er ferner nicht das ganze
Kreuzschiff, sondern jeden Arm des Kreuzes: Crux, und schliesst
damit jede symbolische Hindcutung auf das Kreuz Christi aus.
So bezeichnet er das Kreuzgew6lbe mit dem Worte Ciborium,
das in der kirchlichen Sprache bisher zur Bezeichnung des Bal-
dachins liber dem Altare angewendet war; man war sich also
des Umstandes, dass dieses Gewélbe nur auf den vier Pfeilern
ruhete und mit diesen ein selbslandiges Ganzes ausmachte, vollig
bewusst. Er ftigt hinzu, dass er sich erlauben werde, statt
dieses (wahrscheinlich damals tiblichen) Ausdrucks, das Wort:
Clavis, Schliissel oder Schlussstein, zu gebrauchen, weil die-
ser in der Mille gestellte Stein die von allen Seiten herkom-
menden Theile zusammenschliesse, und zeigt auch sonst, dass
er auf die Form des Rippengewélbes grossen Werth legt.
Dabei ist er sich des Unterschiedes und der Vorztige des
neuen Styls vor dem alten vollstandig bewusst. Schon bei der
Beschreibung des alteren, durch den Brand zerstirten Baues,
die er als Augenzeuge iberliefern zu miissen glaubt, bemerkt
er die Dicke der Mauern und die kleinen und dunkeln Fenster
(murus solidus parvulis et obscuris fenestris distinctus) und am
Schlusse seiner Erzdhlung macht er es sich zur Aufgabe, die
Vorziige des neuen Werkes zu schildern. Er rithmt die gros-
sere Pracht, die Zahl der Marmorsaulen, die Verdoppelung des
Triforiums. Die Pfeiler, fabrt er fort, seien bedeulend héher,
dic Kapitéle, welche friher glatt, die Bogen, welche wie mit dem
Beile bchauen gewesen, jelzt mit zicrlicher, angemessener Bil-
derarbeit ausgestattet; im Hauptschiffe habe sonst eine hélzerne
Decke, freilich mit herrlicher Malerei, im Umgange des Chors
ein Tonnengewalbe bestanden, jetzt sehe man hier wie dort ein
aus Slein und leichtem Tuf gebildetes, mit Bogen und Schluss-
slein versehenes Gewilbe ). Im allen Gebiude halte eine auf
den Pfeilern stehende Mauer die Kreuzarme vom Chor geson-
	$ 1) Ibi in circuitu extra chorum fornices planae (vielleicht nicht Tonnen-
gewilbe, wie ich tibersetzt, sondern nur cin einfaches Kreuzgewélbe ohne
Rippen) hic arcuatae et clavatae. — Ibi coelum ligneum egregia pictura de-
coratum, hic forn xex lapide et tofo levi decenter composita est.
	dert, im neuen schiene Kreuzschiff und Chor in dem Schluss-
stein des miltleren Gewolbes zu verschmelzen’).

Man sieht also, er ist slolz auf die schlanke Form der
Pfeiler; er bemerkt die Erweiterung der Fenster und die Dtinne
der Mauern, er kennt die Schénheit der Kreuzzgewdlbe und
ihren innigen Zusammenhang mit den Pfeilern, er weiss es zu
schiilzen, dass jedes von ihnen ein Ganzes bildet und sie doch
wieder mit einander zusammenhangen; er beachtet dic bessere
Gliederung der Bégen und die Form der Kapitale; er legt da-
gegen gar kein Gewicht auf den Spitzbogen; findet es
nicht der Erwahnung werth, dass dieser die Stelle des alteren
Rundbogens eingenommen. Bei der Genauigkeit seiner Be-
schreibung, der Sorgfalt, womit er einzelne Unregelmassigkcilen
der Anlage erwahnt und entschuldigt, und der lebendigen An-
schauung, welche sein Ausdruck gewdhrt, mtissen wir ihn, wenn
er nicht selbst bei dem Bau thalig war?), wenigstens fiir einen
Freund der Kunst halten, der mit den Ansichten der Meister
nicht unbekannt geblieen. Wir entnehmen daher auch hieraus,
dass man in der That diese Bogenform nur als cin Mittel der
Construction, nicht als eine Zierde betrachtete, und kénnen uns
um so mehr die Erscheinung erklaren, dass sie zuerst nur an
den minder auffallenden, tragenden Theilen angewendet wurde.

Der Bau des Wilhelm von Sens ist noch erhalten und zeigt
cine genaue Uebereinstimmung mit der Kathedrale von Sens;
die Doppelsdulen, die in Sens wahrscheinlich zum ersten Male
angewendet waren, die Verhaltnisse der Sdulenstimme und
korinthisirenden Kapitéle, die Basen sind auch in dem engli-
schen Bau beibehalten. Der Chorschluss ist hier zwar ohne
Umgang, aber doch rund, wahrend die meisten um diese Zeit
in England gebauten Kirchen schon geraden Schluss erhielten *).
Thomas Becket, der beriihmte, bald heilig gesprochene Erzbi-
schof, der Stolz von Canterbury, der erst kurze Zeit vor dem
Chorbrande (1170) gemordet war, halle sich, um den Verfol-
gungen des Kénigs von England zu entgeln, lingere Zeit in
Sens aufgchalten; und es ware daher denkbar, dass man aus
Pietét gegen ihn, jene Kirche, die ihm ein Asyl gegeben, nach-
ahmen wollen. Allein Gervasius sagt dies nicht und wiirde es
nicht verschwiegen haben. Ohne Zweifel war aber durch jenen
Aufenthalt des Thomas Becket in Sens eine Bekannlischaft der
Geistlichkeit beider Bischofssitze entstanden, welche Veranlas-
sung zu der Berufung jenes, wahrscheinlich bei dem unlangst
vollendeten Dombau in Sens erprobten Meisters gab, der nun
die ihm bekannten Formen ohne grosse Riicksicht auf englisches
Herkommen anwendete. Dass man ihm dabei vdllig freie Hand
liess, beweist, dass die geistlichen Herren jetzt nicht mehr An-
spriiche auf kiinstlerisches Urtheil machten. Auch noch der
	1) Ibi murus super pilarios directus cruces a choro sequestrabat, hic
vero nullo interstitio cruces a choro divisae in unam clavem, quae in medio
fornicis magnae consistit, quae quaiuor pilariis principalibus innititur, conve-
nire videtur.

2) Die bescheidene Erwahnung des nicht genannten Ménchs, dessen sich
Wilhelm bediente, um den Bau aus seinem Bette zu leiten, die Hindentung
auf den Neid, mit welchem diese Auszeichnung des jungen Mannes betrachtet
wurde, kénnte auf dic Vermuthung flihren, dass es Niemand anders gewe-
sen, als Gervasius selbst.

3) Eine Andeutung des Gervasius lasst schliessen, dass der runde Chor-
schluss- Widerstand fand. Der altere Bau hatte ihn zwar ebenfalls gehabt,
allem er war kiirzer gewesen. Zufolge der Beschreibung hatte der Chor
auf jeder Seite neun Pfeiler und dann die scchs der Rundung, wahrend er
jetzt, nach der Weise wie Gervasius rechnet, zwolf Pfeiler ohne jene sechs
enthalt, Da man nun tber die Fundamente hinausging, war man auch nicht
an dieselben gebunden. Meister Wilhelm machte aber darauf aufmerksam,
dass die beiden alten, der ehemaligen Chorrundung anliegenden und herzu-
stellenden Thiirme eine Verengung der Breite des Chors bedingten, und dass
diese Unregelmassigkeit weniger auffallend werde, wenn man dahinter den
	Chor abschhesse.