er sie, er mag wollen oder nicht, nach den Gesetzen der mo-
ralischen Natur entwickeln muss. Mit andern Worten, der Stofl
ist fir ihn eine schon angefangene Arbeit, die er nur fortzu-
setzen hat.

Ganz abnlich verhalt es sich in den Zweigen der bildenden
Kunst, welche ihre Stoffe aus unmittelbarer Anschauung der
Natur entnehmen, bei Landschaften und ahnlichen Gattungen.
Hier kann aus demselben Grunde nur der Kiinstler selbst wahlen,
der ihm gegebene Stoff wird nicht leicht zu einem Kunstwerke
hoherer Art. Ganz anders aber bei der monumentalen Kunst,
wo es sich um geschichiliche, in Worten tberlieferte Stoffe
handelt. Dem bildenden Kiinsller ist dieser Stoff keine ange-
fangene Arbeit, seine Arbeit beginnt von Frischem. Auch er
ist allerdings individuell und das Gelingen seiner Werke hangt
auch bei ihm davon ab, dass er seiner Individualilat nichts
Fremdes zumuthe. Allein seine Individualilat hat eben in den
Elementen seiner Kunst ihren Sitz und ihre Kraft, in Formen
und Farben, in Verhaltnissen des Raums und des Lichts, deren
geistige Bedeutung sich zunachst auf das allgemeine, gallungs—
massige Leben, auf die Ziige des géttlichen Wesens in der
djusseren, sichtbaren Natur, und nur secundir und abgeleitet
auf die freien Ziige des sitllichen Lebens bezieht. Er ist daher
unbestreitbar mehr wie der Dichter geeignet, fremde, ihm auf-
getragene Stoffe mit der ganzen Kraft seiner Kunst darzustellen.
Selbst im schlimmsten Falle, wenn das Individuelle des Stoffs
ihn gar nicht anzieht, kann er seinem Werke durch rein bild-
nerische Mittel einen bedeutenden Werth verleihen. Allein
dieser schlimmste Fall wird auch nicht leicht eintreten, wenn
der bildende Kunstler ganz im Geiste seiner Kunst wirkt und
dieses Geistes machtig ist. Der Gegenstand seiner Begeisterung
ist eben ein ganz anderer. Nicht, dass ein historisches oder
sililiches Ereigniss diesen oder jenen Ausgang nehme, dass
darin diese oder jene Charaktere auftreten, sondern dass solche
Charaktere diesen lebendigen Ausdruck gewinnen, dass sich
in ihren Acusserungen wieder die allgemeine menschliche Na-
tur, dass sie sich im Einklange mit den Geselzen der dusseren
Natur zeige, dass Form und Farbe und Verhaltnisse dem Geiste
dienen und seine Sprache sind, dass in allem diesem irdischen
Wesen die Ebenbildlichkeit des gittlichen Wesens durchleuchte,
dies ist das héchst allgemeine und doch wieder immer neue,
immer individuelle Thema der bildenden Kunst, Wie der Por-
traitmaler, wenn er wahrhaft zu diesem Fache berufen ist, auch
der unliebenswiirdigen Persénlichkeit cin Interesse abgewinnen,
ihr Bildniss zu einem Kunstwerke machen kann, wird auch der
monumentale Kiinstler in der Regel in jedem historischen Stoffe,
der ihm gegeben ist, Ziige entdecken, die ihn anziehen und
ihm die zu seiner Arbeit néthige Begeisterung geben. Je voll-
	kommener er in seiner Kunst ist, um so mehr.
Hieraus geht, glaube ich, zur Gentige hervor, dass die
	eigene Wahl des Gegenstandes dem hildenden Kunstler nicht
so néthig und wichtig ist wie dem Dichter. Allerdings mag er
ablehnen, in manchen Fallen selbst verpflichtet sein abzulehnen,
aus sehr verschiedenen Griinden. Zunachst wenn er sich dem
Gegenstande nicht gewachsen fihlt, wenn er z. B. Genremaler,
auf andere Dimensionen, andere kiinsllerische Eigenschaften
angewiesen ist, als dieser Gegenstand erfordert. Dann aber
	auch, wenn derselbe iiberhaupt ftir diese Kunst nicht geeignet
ist, also namentlich wenn er augenscheinlich héchst poetisch
	ist, in jener Sphire gebrochener Emplindungen, welche der
bildenden Kunst versagt sind, seinen Werth hat. Denn dann
wiirde der Kinstler selbst ebensowohl wie der Beschauer diese
Bedeutung nicht vergessen kénnen, jener dadurch bei der Be-
‘arbeitung geirrt und entmuthigt, dieser 2u falschen Ansprichen
und dadurch zum Uebersehen der wirklichen Vorztige verlcitet,
	dern Kunstzweigen aufkommen. Allein dennoch findet ein er-
heblicher Unterschied statt; jener prosaische Bericht ist schon
in Worten gegeben, von der logischen Ausbildung des Ge-
dankens, die in der Sprache ihren Sitz hat, durchdrungen, von
der Phantasie gestaltet, er ist also seinen Elementen nach und
abgesehen von der hdheren kimstlerischen Belebung, die er
durch den Dichter erfahrt, dem Gedichte gleichartig. Dem Ge-
malde ist er es nicht; der Maler muss ihn, um ihn in der Weise
seiner Kunst auffassen zu kénnen, einer Vorarbcit unterwerfen,
die dem Dichter erlassen ist. Dieser Unterschied ist sehr wichtig.
Sie bemerken mit Recht, dass ,,die Stoffwelt und damit der ein-
zelne Stoff aus ihr in den Mythen der Vélker vorbereitet* sei.
Diese Vorbereitung ist aber eben eine poetische, nicht in dem
allgemeineren Sinne des Worts, sondern in dem der Dichtkunst.
Die Poesie ist tberhaupt die Kunst, welche den Vélkern am
Nachsten liegt; vollends in ihrer mythenbildenden, jugendlichen
Zeit sind sie von einem poetischen Hauche durchweht. Und
auch bei spateren historischen Ereignissen sucht die Ueberlie-
ferung stets unwillkiirlich die poetischen Momente auszubilden
und hervorzuheben. Die Geschichte selbst steht der Poesie viel
naher, als der malerischen Auffassung; sie betont die Conflicte
und ihre dberraschende Lésung, sie tibergeht das. Gattungs-
massige, Bleibende. Der Dichter braucht daher nur auf die
schon vorhandene Poesie des Stoffes einzugehen, um sofort
seine eigentliche Arbeit zu beginnen.

Auch fiir den Dichter sind hier Missgriffe méglich. Denn
die Poesie halt sich eben nicht in jener allgemeinen Auffassung,
die den bildenden Kinsten zusagt, sie will das Allerindivi-
duellste, Feinste des sittlichen Lebens. In jedem einzelnen
Dichter ist sie daher persénlich geworden. Er hat sich durch
seine moralischen und geistigen Anlagen, durch seine ausseren
Studien und inneren Erlebnisse beslimmte Gesichtspunkte an-
geeignet, ist mit ihnen verwachsen, hat in ihnen seine poetische
Kraft und Berechtigung. Er wird, weil er Dichter und Kinstler
ist, Empfanglichkeit fir andere Gesichtspunkte und Auffassun-
gen bewahren; aber dic Gcislesverwandtschaft, die Warme,
welche zur eigenen Behandlung erforderlich ist, wird ihn mit
Beslimmtheit auf einen engeren Kreis hinweisen. Da nun die
einzelnen Begebenheiten der Geschichte oder des gegenwarti-
gen Lebens in den Berichlen und Mittheilungen, durch die sie
ihm zugefihrt werden, von Andern mehr oder weniger nach
ihren eigenen Gesichtspunkten behandelt sind, so ist die Gefahr
vorhanden, dass der Dichter vermége seiner Empfanglichkeit
und Begeisterung diese seiner Persénlichkeit minder zusagenden
Газе tibersehe und sich ihrer ungeachtet an den Stoff wage.
Diese Gefahr wird vermindert, wenn schon andere Dichter den-
selben Stoff behandelt haben; denn das Resultat dieser Behand-
Jung licgt vor, und der gegenwartige Dichter wird demselben
gegeniiber seine Individualitat um so starker fiihlen. Sie wird
aber um so grésser, wenn der Stoff schon von Andern mit
halber Poesie aufgefasst und empfohlen ist, die wie alles Be~
gonnene den Begabten zur Vollendung reizt. Daher ist es der
Erfahrung und der Natur der Sache nach die Regel, dass der
Dichter nur selbst erfundene oder gefundene Stoffe, nur solche
Vorwiirfe zu seinen Gedichten nehme, zu denen ihn nicht der
Wunsch oder dic Begeisterung eines Andern, sondern sein un-
bestochenes Geftihl, das schon beim ersten Lesen oder Horen
das ihm Zusagende poetische Element entdeckt, gefiihrt hat.
Der Stoff, wenn er nicht iiberaus nackt und kahl, so allge-
meiner Natur ist, dass ihm noch jedes Moliv untergelegt wer-
den kann, wenn er schon an sich irgend ein poctisches Inter~
esse darbietet, wirkt auf den Dichter ungemein beschrankend.
Die Ziige, die darin wenn auch unbestimmt und wie im Kin-
derantlitz ausgesprochen liegen, geben die Richtung, in welcher