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	an den grossen Werken des Miltelalters bewundert, wie der
Geist der Meister so prachtig, sicher und kihn in der Fille
des Stoffes walten konnte, so haben wir am modernen Archi-
tekten, wo er Treffliches geleistet hat, fast immer anzuerken-
nen, wie viel Schines er der Kargheit des Stoffes abzuringen
gewusst hat. Nicht also in wiefern jeizige Schépfungen den
trefflichen Werken Allerer Zeit nachgeahmt, sondern in wiefern
sie den Inhalt des heutigen Christenthums durch die Hilfsmit-
tel der Gegenwart auszusprechen geeignet sind, wird der Be-
	urtheilung als Massstab dienen mussen.
Wir wenden uns nun zur Betrachtung zweier protestanti-
	scher Kirchen, die in neuester Zeit in Berlin entstanden sind.
	Die neue Kirche der Georgen - Gemeinde
	erhebt sich seit einigen Jahren in einer der entlegenslen Gegen-
den der Stadt auf einem breitgedehnten griinen Platze, dessen
Rasen die Graber eines ehemaligen Kirchhofes tiberwuchert. Aus
dem Gewirr sich kreuzender Strassen plétzlich auf den gros-
sen, stillen Anger tretend, aus dessen Mitte ernst die Massen
eines kirchlichen Gebiudes emporragen, faihlt man sich wohl-
	thuend berunrt.
Von Stiiler entworfen und unter Erbkam’s Leitung aus-
	gefiihrt, schliesst sich die Kirche dem System des Rundbogen-
styles an. Ihre Anlage ist die eines Centralbaues mit hohem
achteckigen, kuppelbedeckten Mittelbau und niedrigerem acht-
seitigen Umgang. Westlich legt sich ein Glockenhaus mit einer
Vorhalle, Gstlich unter rechtwinkliger Vorlage eine halbkreis—
férmige Chornische an; neben dieser zwei kleinere viereckige
Ausbauten, Sakristei und Taufkapelle. Acht schlanke, AQ Fuss
hohe, aus grossen Sandsteinblécken gefugte Saulen von acht-
eckigem Schaft tragen vermittelst breiter Rundbogen die Mauern
des Miltelbaues und scheiden letzteren von dem Umgange. Die-
ser ist in zwei Stockwerke zerlegt, die beide mit flacher Holz-
decke geschlossen sind. Das untere dffnet sich mit einer Ar-
kade von gusseisernen Saulen gegen den Mittelraum. Dieses
Stockwerk erhalt ein massiges Licht durch nicht sehr grosse
	die lagliche Feier des heiligen Opfers den Allar als Zielpunkt der
aufmerksamen Andacht der Glaubigen, erheischte die Stellung
des Priesterthums zur Gemeinde eine entsprechende Entwick-

lung der Chor-Archilektur: so tritt dort die Predigt und mit
ihy die Kanzel als wichtigster Punkt des Kultus hervor, und

eine bedeutungsvollere Choranlage schwindet mit dem уегап-
derten Verhaltnisse, in welchem der Prediger zur Gemeinde
steht. Fand der katholische Goltesdienst die Grundform der
Basilika als die geeignetste fir seine Gestaltung, ohne jedoch
Cenlral-Anlagen ganz auszuschliessen, so wollen fiir den pro-
teslanlischen Cullus letztere als die geeignetsten erscheinen.
So werden also im heutigen Kirchenbau auf proteslantischer
wie katholischer Seile neue geistige Elemente zur Geltung zu
bringen sein, denen die gebundene Nachahmung alter Vorbilder
Geniige zu leisten nicht durchweg im Stande ist. Aber dazu
kommt nun noch der andre Umstand, dass die Resullate der
Forschung auf technischen und mechanischen Gebicten eine
Menge neuer Hilfsmiltel dem Kinstler zu Gebote stellen, ja
aufdringen, denen er sich nicht vornehm dadurch entziehen
kann, dass er, im Hinblick auf die Muster Alterer Zeiten, de-
nen dergleichen noch fehlte, sie als nicht vorhanden betrachtet.
Diese neuen Hiilfsquellen dem Strom der Kunstentwicklung in
gelauterter, asthetisch geklarter Gestalt zuzufihren, damit cr
an ihnen einen neuen Kraftzuwachs gewinne, ist die zweite,
nicht minder schwierige Aufgabe der modernen Architektur.
Noch schwieriger wird dieselbe aber durch ein anderes Ver-
haltniss. Das Miltelalter baute seine Kirchen ohne Angstliche
Riicksicht auf den Kostenpunkt. In den meisten Fallen begann
man frisch das Werk und forderte es mit den gerade vorhan-
denen Kraften, so weit diese reichten. Waren diese erschépft,
so vertraule man, dass der Himmel durch fromme Beisteuer der
Glaubigen, Ablisse, Vermachtnisse oder auf anderen Wegen
neue Fundgruben eréffnen wiirde. Dem modernen Baumeister
dagegen tritt, in schneidendem Contrast zu der Fille technischer
und mechanischer Hilfsmiltel, die durch die Sparsamkeit ge-
botene Beschrankung tberall hemmend entgegen, und wenn man