102 an den grossen Werken des Miltelalters bewundert, wie der Geist der Meister so prachtig, sicher und kihn in der Fille des Stoffes walten konnte, so haben wir am modernen Archi- tekten, wo er Treffliches geleistet hat, fast immer anzuerken- nen, wie viel Schines er der Kargheit des Stoffes abzuringen gewusst hat. Nicht also in wiefern jeizige Schépfungen den trefflichen Werken Allerer Zeit nachgeahmt, sondern in wiefern sie den Inhalt des heutigen Christenthums durch die Hilfsmit- tel der Gegenwart auszusprechen geeignet sind, wird der Be- urtheilung als Massstab dienen mussen. Wir wenden uns nun zur Betrachtung zweier protestanti- scher Kirchen, die in neuester Zeit in Berlin entstanden sind. Die neue Kirche der Georgen - Gemeinde erhebt sich seit einigen Jahren in einer der entlegenslen Gegen- den der Stadt auf einem breitgedehnten griinen Platze, dessen Rasen die Graber eines ehemaligen Kirchhofes tiberwuchert. Aus dem Gewirr sich kreuzender Strassen plétzlich auf den gros- sen, stillen Anger tretend, aus dessen Mitte ernst die Massen eines kirchlichen Gebiudes emporragen, faihlt man sich wohl- thuend berunrt. Von Stiiler entworfen und unter Erbkam’s Leitung aus- gefiihrt, schliesst sich die Kirche dem System des Rundbogen- styles an. Ihre Anlage ist die eines Centralbaues mit hohem achteckigen, kuppelbedeckten Mittelbau und niedrigerem acht- seitigen Umgang. Westlich legt sich ein Glockenhaus mit einer Vorhalle, Gstlich unter rechtwinkliger Vorlage eine halbkreis— férmige Chornische an; neben dieser zwei kleinere viereckige Ausbauten, Sakristei und Taufkapelle. Acht schlanke, AQ Fuss hohe, aus grossen Sandsteinblécken gefugte Saulen von acht- eckigem Schaft tragen vermittelst breiter Rundbogen die Mauern des Miltelbaues und scheiden letzteren von dem Umgange. Die- ser ist in zwei Stockwerke zerlegt, die beide mit flacher Holz- decke geschlossen sind. Das untere dffnet sich mit einer Ar- kade von gusseisernen Saulen gegen den Mittelraum. Dieses Stockwerk erhalt ein massiges Licht durch nicht sehr grosse die lagliche Feier des heiligen Opfers den Allar als Zielpunkt der aufmerksamen Andacht der Glaubigen, erheischte die Stellung des Priesterthums zur Gemeinde eine entsprechende Entwick- lung der Chor-Archilektur: so tritt dort die Predigt und mit ihy die Kanzel als wichtigster Punkt des Kultus hervor, und eine bedeutungsvollere Choranlage schwindet mit dem уегап- derten Verhaltnisse, in welchem der Prediger zur Gemeinde steht. Fand der katholische Goltesdienst die Grundform der Basilika als die geeignetste fir seine Gestaltung, ohne jedoch Cenlral-Anlagen ganz auszuschliessen, so wollen fiir den pro- teslanlischen Cullus letztere als die geeignetsten erscheinen. So werden also im heutigen Kirchenbau auf proteslantischer wie katholischer Seile neue geistige Elemente zur Geltung zu bringen sein, denen die gebundene Nachahmung alter Vorbilder Geniige zu leisten nicht durchweg im Stande ist. Aber dazu kommt nun noch der andre Umstand, dass die Resullate der Forschung auf technischen und mechanischen Gebicten eine Menge neuer Hilfsmiltel dem Kinstler zu Gebote stellen, ja aufdringen, denen er sich nicht vornehm dadurch entziehen kann, dass er, im Hinblick auf die Muster Alterer Zeiten, de- nen dergleichen noch fehlte, sie als nicht vorhanden betrachtet. Diese neuen Hiilfsquellen dem Strom der Kunstentwicklung in gelauterter, asthetisch geklarter Gestalt zuzufihren, damit cr an ihnen einen neuen Kraftzuwachs gewinne, ist die zweite, nicht minder schwierige Aufgabe der modernen Architektur. Noch schwieriger wird dieselbe aber durch ein anderes Ver- haltniss. Das Miltelalter baute seine Kirchen ohne Angstliche Riicksicht auf den Kostenpunkt. In den meisten Fallen begann man frisch das Werk und forderte es mit den gerade vorhan- denen Kraften, so weit diese reichten. Waren diese erschépft, so vertraule man, dass der Himmel durch fromme Beisteuer der Glaubigen, Ablisse, Vermachtnisse oder auf anderen Wegen neue Fundgruben eréffnen wiirde. Dem modernen Baumeister dagegen tritt, in schneidendem Contrast zu der Fille technischer und mechanischer Hilfsmiltel, die durch die Sparsamkeit ge- botene Beschrankung tberall hemmend entgegen, und wenn man