traitartigen Individualisirung geht dann die grésste Mannichfaltg—
keit in den Aeusserungen mehr oder weniger Iebhafter Gemiths—
regungen Hand in Hand. Wiewohl eine cigentlich leidenschaft~
liche Kundgebung in irgend einem Sinne bei keiner Figur be-
merkbar ist, so finden wir doch von der fast stumpfsinnigen
Gleichgiilligkeit oder doch wenig interessirten blossen Neugierde
an, welche die Knaben und Leute aus dem gemeinen Volke an den
Tag legen, eine reiche Stufenleiter der Theilnahme bis zu der
entschiedensten Missbilligung auf der einen — und zu der keck-
sten und herausforderndsten Zustimmung, z. B. bei den Stu-
denten, auf der anderen Seite. Das lebhafteste Interesse flis-
sen natirlich die Reformatoren selbst ein. Vor allen haftet
unser Auge auf dem Hauple derselben, auf Luther. Der Aus-
druck seines gen Himmel erhobenen, vom Widerscheine der
lichten Wolkenmassen tiber ihm beleuchteten Gesichtes, wie der
Bewegung der ganzen Gestalt, ist der der muthigsten Ueber-
zeugung von der Heiligkeit seiner Sache und kann nicht sché~
ner gedacht werden. Einen trefflich wirkenden Gegensatz dazu
bildet Melanchthon, dessen sanfter Blick nicht frei von nach-
denklicher Besorgniss tiber die Folgen dieses Tages scheint.
Bei Forster, einem Manne von strengem Aeussern, und bei
Bugenhagen sprechen sich gespannte Aufmerksamkeit und Bil~
ligung aus.

Man kénnte vielleicht an den Gestalten Luther’s und Me-
lanchthon’s einen kleinen Anachronismus riigen. Der Erstere
wird namlich von, einem gleichzeitigen Leipziger Gelehrten im
Jahre 1519 so mager geschildert, ,dass man fast alle Knochen
zahlen konnte*. — Und Melanchthon war zur Zeit der Ver-
brennung der Bulle ein Jéingling von noch nicht vllig 24 Jahren.
Dass der Kiinstler gegen beide Thatsachen aus Irrthum ver-
stossen haben sollte, ist bei der scrupulésen Gewissenhaftig-
Кеш, mit welcher er die zuverliassigsten, gleichzeitigen Portraits
der Reformatoren aufgesucht und benutat hat, nicht denkbar.
Wir dirfen daher annehmen, dass er.Luther absichtlich kraf-
tiger und voller, Melanchthon aber alter dargestellt habe, als
beide damals waren, damit die Persénlichkeiten derselben der
Vorstellung, die wir davon meist nur durch Bildnisse aus ihrer
spaleren Lebenszeil erhalten haben, méglichst entsprachen. Mag
dieses eine Inconsequenz des Realismus sein, gleichviel, hier
ist sie hdchst lobenswerth. :

So sprechend und lebenvoll die Charakteristik, so wahr
und naturgetreu ist auch die malerische Ausfiihrung. Von dem
untergeordnetsten Beiwerke bis zu dem geistigen Mittelpunkte
des Bildes — dem Kopfe Luther’s —. hinauf ist Alles mit dem
tiefsten Studium und der ausserordentlichsten Meisterhaftigkeit
yollendet. Der Letztere namentlich ist von einer Geistigkeit,
dass ich ihn als die gelungenste Partie des ganzen Gemildes be-
zeichnen michte. Dabei ist die Gesammtwirkung des Bildes,
in der kraftigen tiefen Farbe sowohl, wie in den wohlabgewo-
genen Verhiltnissen von Hell und Dunkel — ohne dass die
einfachste Natirlichkeit verlassen und die Anwendung ktnst-
licher Effektmittel versucht wire — von einer so wunderbaren
Harmonie und ungemeinen Klarheit, dass hierin kein fraheres
Werk Lessing’s héher oder auch nur auf gleicher Hohe stehen
dtirfte. —

Das ist mein Urtheil iiber das Bild, wie es einmal ist, und
von dem realistischen Standpunkte aus, auf welchem auch der
Kiinstler stand, als er es schuf. Darf ich hier auch noch die
Frage berihren, ob auf diesem Wege der zur Darstellung ge-
wahlte Gegenstand in seiner ganzen geschichtlichen Bedeutung
hervortrete, so muss ich das verneinen. Gerade weil Lessing
die Verbrennung der Bulle so chronikenmassig treu aufgefasst
und dargestellt hat, kann das Bild nicht aussprechen oder an-
	deuten, was die Reformatoren damals selbst noch nicht ahnien.
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	consequente Befolgung dieses Principes erlangt. Sein Ziel bei
jeder Aufgabe ist demgemass- kein anderes, als: ein gegebenes
Ereigniss in méglichster Wahrheit so darzustellen, wie es in
der Wirklichkeit sich zugetragen hat. Wollten wir von der
hergebrachten, technischen Nebenbedeutung des Wortes ,Histo-
rienmalerei* absehen, so kénnten wir sagen, Lessing’s Streben
set eben auf die historische Darstellung in der eigentlichen
Bedeutung des Wortes gerichtet.

In diesem Sinne ist auch das in Rede stehende Bild auf-
gefasst und durchgefiihrt. Es enthalt auf einer Flache von 7 Fuss
Breite und 5} Fuss Hohe eine dreifach gegliederte reiche Gruppe
von Figuren, von denen die vorderen noch nicht halbe Lebens-
grésse erreichen. Die Scene ist ein Platz vor dem Elsterthore
von Wittenberg. Hieher hatte Luther, in Folge der Bekannt-—
machung der papstlichen Bulle, die seine Schriften zur Ver-
brennung verdammie, durch einen 6ffentlichen Anschlag die
Mitglieder der Universitat auf den 10. December 1520 Vormit-
tags 9 Uhr beschieden. Das Bild ist so angeordnet, dass man
in nicht zu grosser Ferne einen Theil der Stadt und ihre Haupt-
kirche gewahrt. Die Dacher sind mit Schnee bedeckt, der —
zum Theil zertreten — sich auch fiber den Vordergrund aus-
breitet. Der fast ginzlich bewélkte Himmel zeigt sein Blau nur
in einzelnen schmalen Streifen. Die Mitte des Vordergrundes
nimmt ein Scheiterhaufen ein, gebildet aus den Btichern des
kanonischen Rechis, den Decretalen der Papste und Eck’s
Schriften. Ein stattlicher Magister schiirt das Feuer, dessen
seitwarts aufsteigender Rauch sich mit den dunkeln Wolken des
oberen Theiles der Luft vermischt. Rechts ist Luther an den
Scheiterhaufen herangetreten, die gewaltsam mit beiden Handen
erfasste Bulle mit den biblischen Worten: ,,weil du den Hei-
ligen des Herrn betriibt hast, so betriibe und verzehre dich das
ewige Feuer!“ den Flammen zu itbergeben’). Hinter dieser
Hauptperson dringen sich Studenten in der damaligen, beinahe
ritterlichen Tracht und andere Zuschauer aus dem Volke heran,
um in méglichster Nahe zu sehen und zu héren, was da vorgehe.

In der Gruppe, welche die linke Seite des Bildes einnimmt
— Luther gegeniiber — machen sich vorzugsweise die Kory-
phaien der Reformation bemerklich. Zundchst Melanchthon, den
wir fast im Profil sehen; an dessen Seite, jedoch mehr nach
der Mitte hin, steht Forster, Kopf und Oberkérper vorbeugend.
Hinter diesen Beiden sind noch Bugenhagen, Bernhardt und an-
dere am Reformationswerke damals Betheiligte ‘zu erkennen.
Ganz am Rande des Bildes trifft unser Blick noch auf einen
Cavalier in pelaverbramtem Mantel, der die Linke ausdrucksvoll
auf den Schwertknanf stiitzt. Er schaut sehr trotzig darein und
scheint den Wiinschen, welche einige neben ihm sichtbare Geist~
liche im Stillen hegen mégen, ndthigenfalls Nachdruck geben
zu wollen.

Zwischen den beiden Hauptgruppen, welche, getrennt durch
den Scheiterhaufen, die ganze Breite des Bildes einnehmen,
wird noch éin Theil der etwas tiefer stehenden Volsmenge sicht-
bar. Unter woblgenahrien Monchen und ehrsamen Biirgersieuten
bemerkt man auch den Reformatoren-Maler Lucas Cranach.

‘Das ist die dussere Anordnung des Bildes. Das Hauptver-
dienst desselben liegt indess weniger in dem linearen Bau der
Composition, als in der bewunderungswiirdigen Lebendigkeit,
mit welcher ihre einzelnen Bestandtheile individualisirt sind und
in Beziehung zu einander und zu dem Ganzen stehen. Keine
einzige Figur fallt uns auf, die als ein conventioneller Typus
fir irgend einen Stand, Affect oder Alter erschiene. Jede Per-
son ist ein wirklich lebendiges Individuum, vom Kopf bis zur
Zehe in vollkommenster Harmonie charakterisirt. Mit dieser por-

 
	1) Marheinike, Gesch. d. teutschen Reformation.