262
	diese Begebenheit angehort, der volksthtimlichen Zustande, aus
denen sie hervorgegangen ist, kennen; er muss zugleich mit
allem Aecusseren, was die Erscheinungen des Lebens in dieser
geschichllichen Epoche bedingte, und mit der eigenen Enlwicke-
lung desselben vertraut sein. Jenes ist Sache der allgemeinen
Bildung, dies die Sache des eigentlich kiinstlerischen Spezial-
studiams. In der That ist die Geschichte des Kostiims — mit
welchem Worle wir jene ausseren Dinge zu bezeichnen pflegen
— heutiges Tages ‘fiir den darstellenden Kiinstler ein ebenso
wesentliches Studium, wie z. B. das der Anatomie und der Per-
spective.

Es sieht aber mit. diesem Studium und zundchst mit den
Mitteln desselben hisher noch wenig erfreulich aus. An Ма-
terial fehlt es nicht. Wir besilaen Werke, aus grossen Reihe~
folgen dickleibiger Foliobande bestehend, die das Kostiim ein~
zelner Nationen, sowie derer der gesammten Welt abhandeln;
wir haben eine Ueberfille bildlicher Beispielsammlungen fir
mehr oder weniger ausgedehnte Epochen; wir finden Einzel-
heiten selbstandig in einer Menge kleiner Schriften, auch mehr
oder minder beilaufig in andern Werken mifgetheilt und be-
sprochen. Die zum Studium der Kostiimgeschichte erforder~
liche Bibliothek witirde bereits ein ganz ansehnliches Lokal an-
fillen, Aber schon die fast ungeheuerliche Weitschichtigkeit
dieses Materials macht das Studium fiir den, dem es doch nur
Mitlel zum Zweck ist, geradehin unausfiihrbar. Es kommt ihm
naturgemass auf hundertfaltige Einzelheiten an, und diese soll
er sich aus hunderten verschiedener Werke zusammensuchen;
es kommt ihm auf Zuverlassigkeit an und er findet, falls seine
Natur tiberhaupt nur zu einiger kritischen Beobachtung geneigt
ist, dass unter hundert Fallen vielleicht zwei sind, die ihn die
Sache erschépfend kennen lehren und die ihm eine nur einiger-
maassen sichere Birgschaft fir die richtige Zeitbestimmung des
Mitgetheilten geben. Es kommt ihm auf einen verstandigen
Fihrer durch diese Wirrnisse an, und er sicht sich tiberall auf
seine eignen Krafte angewiesen. So ist alles kostiimgeschicht-
liche Studium unsrer Kiinsiler bisher nur ein dilettantistisches
gewesen; sobald sie tiber den engen Kreis, fir den zufallig
Ueberliefertes vorliegen mochle, hinausschritten, musste sich
der Mangel des eigentlich genetischen Verstandnisses ohne Wei-
teres kundgeben. So hat es unsre Kunst, trotz des allgemein
gefiihlten Bediirfnisses, noch in keiner Weise dahin gebracht,
auf dem ersehnten historischen Pfade sich nur irgendwie mit
Sicherheit und Folgerichtigkeit zu bewegen.

Das in der Ueberschrift genannte Werk ist es, welches,
soviel aus dem vorliegenden ersten Bande zu erkennen, dem
kostiimgeschichtlichen Studium die erforderliche sichre Begriin-
dung gewahren wird, indem es von einer vollstandigen Kennl-
niss des Materials ausgeht, das Ganze wie das Einzelne kri-
tisch sichtet, die Fille der Gegenstande in strenger Folgerich-
	‘tigkeit vorfihrt und zur bestimmten selbstandigen Auffassung
	ИБегаП diejenigen Gesichtspunkte giebt, welche auf einer wis-
senschafllich geschichtlichen Anschauung beruhen. Der Ver-
fasser, urspriinglich Maler, ist ebenso sehr Kiinstler wie Mann
der wissenschaftlichen Forschung: er verbindet in sich die bei-
den Eigenschaften, ohne welche ein Werk wie das vorliegende
iberhaupt nicht durchzufiihren ware; er vereinigt damit noch,
als ein drittes sehr Wesentliches, dasjenige praklische Geschick,
welches zur tibersichtlichen, verstindigen Ordnung eines aus
tausend und aber tausend Einzelheiten erwachsenen Materiales
néthig ist. Ein Buch der Unterhaltungslectiire, der gcistreich
spiclenden Darstellung zu schaffen (wozu der Stoff auch wohl.
Anlass geben konnte), lag nicht in seiner Absicht; scin Werk
ist fir das slrenge Studium bestimmt, als ein solches behandelt
und als ein solches aufzufassen. Wer das Buch mit Ernst in
		chael Coxcie, die ich fir geeignet halle, ein solches Bild
hervorzubringen, obgleich Beide sich mehr zu roéthlichen und
braunlichen Tinten hinneigen, wahrend in diesem Werke mehr
die grau-blaulichen Tinlen vorherrschen, die sehr an den
Meister erinnern, den man in Berlin und Antwerpen fir Ma-
buse halt, Fiir Coxcie spricht vor Allem die Energie des gei-
stigen Ausdrucks der K6pfe, ja das ahnliche Gefihl der Wir-
kung, die der individuelle Blick der Augen dieser Gestalten
ausiiben. Dahingegen stimmt der feine Formensinn und die
Frémmigkeit der Gesinnung, die sich in der Auffassung und
liebevollen Ausfiihrung kundgiebt, fir Orley. Keinesfalls ist
der Urheber dieses Bildes bei solchen Meistern zu suchen, die
einen untergeordneten Rang einnehmen.

Von Bildern, die sich mehr als Nachahmung zu erkennen
geben, kann hier fiiglich die Madonna mit dem Kinde angefihrt
	werden, welches Kirschen in der Hand hat, No. 159. Hin ahn-.
	liches besitzt das Berliner Museum, das hier wohl mit Recht
als ein Werk Mabuse’s angesehen wird. Dic Composition die-
ses Bildes soll von Solario herriihren, Als ein Nachklang
der Eyck’schen Kunstperiode ist hier das Bild No. 166 anzuse-
hen, vorstellend eine Heilige, die in einem Buche liest. Das-
selbe stimmt in jeder Hinsicht mit einem Werke des Antwer-
pener Museums tiberein, das hier dem J. Mostirt zugeschrie-
	ben ist: (Fortsetzung folgt.)
	ми егафаг.
Geschichte des Kostiims. Die Tracht, die baulichen
	Einrichtungen und das Gerdth der vornehmsten Vélker der
Ostlichen Erdhélfte. Гоп Hermann Weiss. Erste Ab-
theilung; erster Theil. Berlin, Ferd. Diimmlers Verlags-
	buchhandlung. 1853. (XXII u. 406 S. in 8.)
	Die darstellende Kunst hat schon seit geraumer Zeit das
Streben, ihren Gebilden das Geprage des geschichtlich Ange-
messenen zu geben, sic in derjenigen Erscheinung vorzufth-
ren, welche das historische Bedingniss fordert. Es geniigt.ihr
nicht mehr, ihre Gestalten nur etwa zu Tragern der subjecti-
ven Empfindungen, die das Gemtith des schaffenden Kinstlers
erfiillen, zu machen, nur etwa das allgemein Menschliche an
ihnen herauszukehreng sie findet sich auch mit den herkémm-
lichen conventionellen Andeutungen, welche bisher zur Bezeich-
nung der einen oder der andern weltgeschichtlichen Epoche
dienen sollien, in keiner Weise mehr hefriedigt. Sie verlangt
eine vollkommen objective Charakteristik, eine solche, welche
das darzustellende Ereigniss mit seinen Persénlichkeiten und
Umgebungen als das Ergebniss bestimmter geschichtlicher und
culturgeschichtlicher Entwickelungsmomente erkennen lasst und
das hiezu Néthige in voller Entschiedenheit durchfihrt. Es ist
die energische wissenschaftliche Entwickelung der neueren Zeit,
welche, wie auf viele andre Gebiete des Lebens, so hierin auch
auf die Kunst ihren unausweichlichen Einfluss kundgiebt, —
welche von der Kunst in dieser Beziehung vielleicht ihren schén-
sten Lohn erwarten darf. Was die Wissenschaft erforscht, hat
die Kunst zur lebendigen Gestalt durchzubilden; aber auch die
Kunst selbst wird sich im Verfolgen dieser Richtung, — wenn
sie es will und dussere Ungunst ihr nicht zu hemmend ge-
gegentibersteht, — wiederum zu Leistungen héchsten Ranges,
zu eigenthiimlichen, dic noch keine frithere Zeit kannte, ent-
wickeln.

Solchem Streben zu geniigen, wird freilich ein ernstliches
Studium erfordert. Der Kinstler muss nicht bloss die Bege-
benheit an sich, die er darstellen will, nicht bloss den Geist,
das innere Lebensgefiihl der geschichtlichen Epoche, welcher