meist deutlich erkennbar, während die andere in den Grundlinien eine steifere Haltung, die mehr zum Lapidarstil neigt, bewahrt. Zwischen diesen zwei Systemen der Linienführung schwan
ken die folgenden gotischen Schriften, deren Formenkreis uns heute schon etwas veraltet erscheint.
Diese ersten Alphabete sind für die oben charakterisierte Zeitstimmung massgebend.
Gleichwie bei den modernen Frakturschriften bemerken wir auch bei ihnen das Streben nach Glätte, Ausscheidung aller hervortretenden Eigenheiten und nach übermässiger Verfeinerung der Haarstriche. Die ursprünglich der Gotik innewohnende Kraft und Originalität ist dadurch
zum grossen Teil verloren gegangen und hat sich der zeitgemässen Charakterlosigkeit angepasst. Auch die folgenden beiden, anfangs
der 80 er Jahre nach englischen Mustern bei uns eingeführten Schriften (No. 12 Altenglische Gotisch; No. 13 Moderne Angelsächsisch) haben sich davon noch nicht ganz frei machen können, wiewohl sie schon eine bedeutend freiere Be
handlung aufweisen. Die Minuskeln wenden sich entschieden von der Einförmigkeit ab und sind bemüht, durch zierliche Gestaltungen sich
zur Geltung zu bringen. Das Verhältnis dieser beiden Schriften zu einander ist gleich dem der ersten beiden Nummern. Dieselben Ideen sind bei der einen Schrift, wie dort, mit Federdruck, bei der anderen in monumentaler Art zum Aus
druck gebracht. Die Verschnörkelungen und Feinheiten dieser Schriften eigneten sich nicht für jeden Gebrauch und Geschmack; der Zug nach kräftigeren Tönen, wie er durch die Renaissance - Bewegung besonders im Kunstgewerbe sich geltend machte, verlangte auch
auf diesem Gebiete Berücksichtigung. Dieser entspricht die anfangs der 90 er Jahre ebenfalls von der Bauerschen Giesserei in Frankfurt aus
gegangene Viktoria-Gotisch (No. 14), die sich aber hinsichtlich der künstlerischen Ausdrucks
fähigkeit noch auf dem alten Niveau bewegt. Tiefer in den Geist der alten Meister ist der Künstler eingedrungen, dem wir die unter dem Namen Kirchengotisch (No. 15) aus England eingeführte Schrift verdanken. Sie weist uns ziemlich deutlich auf handschriftliche Vorbilder des XIV. Jahrhunderts, wie sie z. B. ein mün
chener Bibelcodex (No. 6) aufweist. Vor etwa 50 Jahren in England geschnitten, spiegelt sie
den Geist wieder, der damals unter Führung von George Gilbert Scott eine glänzende neue Epoche der Gotik heraufführte. In anderem Sinne, aber
nicht minder künstlerisch ist die holländische Gotisch (No. 16), die seit Jahrhunderten sich fortdauernd in den Musterbüchern erhalten hat. Ihre Ge
schichte ist mit den besten Namen der niederländischen Typographie verknüpft. Plantin hat sie dort zuerst nach älteren Vorbildern1 geschnitten, darnach haben die berühmtesten Stempelschneider Hollands, Noskens, van Dyck und JohannMichaelFleischmann, sie bearbeitet. Die Original
stempel des letzteren, um die Mitte des XVIII. Jahrhunderts entstanden, befinden sich im Besitze der Schriftgiesserei Enschedé & Zoonen in Haarlem, welche sie damals anfertigen Hess und sich noch heute auf ihr Originalrecht daran beruft. Die Niederländer nennen die Schrift „Duits“; unter der Bezeich
nung „Flamand“ findet sie sich in dem 1766 erschienenen Manuel Typographique von Fournier. Der eigenartige Schwung, die glückliche Verteilung von Licht und Schatten machen sie zu einer der besten Erfindungen, die uns heute noch so frisch und unmittelbar anmutet wie jedes grosse originale Kunstwerk.
Aber der Mensch ist ungenügsam; vielerlei sind die „Geschmäcker“, und mancherlei Bedürfnisse und Wünsche lassen den Erfinder
geist nicht rasten, auch wenn scheinbar aller Wünsche Ziele erreicht ist. So bleibt er auch auf unserem Gebiete nicht bei einem Ziele
1 In Kölner Drucken der 80er Jahre des XV. Jahrhunderts finden wir eine Schrift, die sehr an diese holländische Gotisch erinnert; ob die Priorität dafür auf Köln oder Holland zurückzuführen ist, bleibe dahingestellt.
Abb. 6. Kirchengotisch (nach Hrachovina).
ken die folgenden gotischen Schriften, deren Formenkreis uns heute schon etwas veraltet erscheint.
Diese ersten Alphabete sind für die oben charakterisierte Zeitstimmung massgebend.
Gleichwie bei den modernen Frakturschriften bemerken wir auch bei ihnen das Streben nach Glätte, Ausscheidung aller hervortretenden Eigenheiten und nach übermässiger Verfeinerung der Haarstriche. Die ursprünglich der Gotik innewohnende Kraft und Originalität ist dadurch
zum grossen Teil verloren gegangen und hat sich der zeitgemässen Charakterlosigkeit angepasst. Auch die folgenden beiden, anfangs
der 80 er Jahre nach englischen Mustern bei uns eingeführten Schriften (No. 12 Altenglische Gotisch; No. 13 Moderne Angelsächsisch) haben sich davon noch nicht ganz frei machen können, wiewohl sie schon eine bedeutend freiere Be
handlung aufweisen. Die Minuskeln wenden sich entschieden von der Einförmigkeit ab und sind bemüht, durch zierliche Gestaltungen sich
zur Geltung zu bringen. Das Verhältnis dieser beiden Schriften zu einander ist gleich dem der ersten beiden Nummern. Dieselben Ideen sind bei der einen Schrift, wie dort, mit Federdruck, bei der anderen in monumentaler Art zum Aus
druck gebracht. Die Verschnörkelungen und Feinheiten dieser Schriften eigneten sich nicht für jeden Gebrauch und Geschmack; der Zug nach kräftigeren Tönen, wie er durch die Renaissance - Bewegung besonders im Kunstgewerbe sich geltend machte, verlangte auch
auf diesem Gebiete Berücksichtigung. Dieser entspricht die anfangs der 90 er Jahre ebenfalls von der Bauerschen Giesserei in Frankfurt aus
gegangene Viktoria-Gotisch (No. 14), die sich aber hinsichtlich der künstlerischen Ausdrucks
fähigkeit noch auf dem alten Niveau bewegt. Tiefer in den Geist der alten Meister ist der Künstler eingedrungen, dem wir die unter dem Namen Kirchengotisch (No. 15) aus England eingeführte Schrift verdanken. Sie weist uns ziemlich deutlich auf handschriftliche Vorbilder des XIV. Jahrhunderts, wie sie z. B. ein mün
chener Bibelcodex (No. 6) aufweist. Vor etwa 50 Jahren in England geschnitten, spiegelt sie
den Geist wieder, der damals unter Führung von George Gilbert Scott eine glänzende neue Epoche der Gotik heraufführte. In anderem Sinne, aber
nicht minder künstlerisch ist die holländische Gotisch (No. 16), die seit Jahrhunderten sich fortdauernd in den Musterbüchern erhalten hat. Ihre Ge
schichte ist mit den besten Namen der niederländischen Typographie verknüpft. Plantin hat sie dort zuerst nach älteren Vorbildern1 geschnitten, darnach haben die berühmtesten Stempelschneider Hollands, Noskens, van Dyck und JohannMichaelFleischmann, sie bearbeitet. Die Original
stempel des letzteren, um die Mitte des XVIII. Jahrhunderts entstanden, befinden sich im Besitze der Schriftgiesserei Enschedé & Zoonen in Haarlem, welche sie damals anfertigen Hess und sich noch heute auf ihr Originalrecht daran beruft. Die Niederländer nennen die Schrift „Duits“; unter der Bezeich
nung „Flamand“ findet sie sich in dem 1766 erschienenen Manuel Typographique von Fournier. Der eigenartige Schwung, die glückliche Verteilung von Licht und Schatten machen sie zu einer der besten Erfindungen, die uns heute noch so frisch und unmittelbar anmutet wie jedes grosse originale Kunstwerk.
Aber der Mensch ist ungenügsam; vielerlei sind die „Geschmäcker“, und mancherlei Bedürfnisse und Wünsche lassen den Erfinder
geist nicht rasten, auch wenn scheinbar aller Wünsche Ziele erreicht ist. So bleibt er auch auf unserem Gebiete nicht bei einem Ziele
1 In Kölner Drucken der 80er Jahre des XV. Jahrhunderts finden wir eine Schrift, die sehr an diese holländische Gotisch erinnert; ob die Priorität dafür auf Köln oder Holland zurückzuführen ist, bleibe dahingestellt.
Abb. 6. Kirchengotisch (nach Hrachovina).