Kunst und Künstler REDAKTION: EMIL HEILBUT


VERLAG BRUNO CASSIRER


TANAGRA


VON
FRANZ WINTER
(SCHLUSS)
DIE „Tanagrafiguren“ wurzeln ganz in der attischen Kunst des vierten Jahrhunderts. Sie haben die Kunst des Praxiteles zur Voraussetzung. Und diese konnte der Kleinplastik zu einer deren Wesen und Vermögen gemässen künstlerischen Betätigung den befruchtenden Anstoss geben, weil ihr Ziel, die Darstellung gefälliger Anmut in feinster Form, auch der Arbeit im Kleinen in den durch die bescheideneren Mittel des Materials und der Technik ge
wiesenen Grenzen erreichbar war. Die Erotenfigürchen sind im winzigsten Massstab ausgeführt, die schönen weiblichen Statuetten durchweg nicht über 0, 30 Meter Höhe gebildet. Bei keiner von ihnen hat man den Eindruck, dass die Komposition für eine Ausführung in grösseren Verhältnissen erfunden wäre. Sie sind von geschlossener einheitlicher Wirkung, so graziös im Entwurf wie in der bis in die kleinsten Einzelheiten sorgfältigen Durchführung,
die nach dem Ausdrücken aus der Form noch durch ein Nacharbeiten mit dem Modellierstäbchen ver
feinert ist und durch die mit zarten bunten Farben aufgetragene Bemalung ihre letzte Vollendung er
halten hat. Vielfach sind auch einzelne Teile, wie Köpfe und Arme, aus besonderen Formen herge
stellt und nachträglich angesetzt. Selten sind, wie das bei der in Massenbetrieb verfertigten Mittelware regelmässig der Fall ist, mehrere völlig gleichartige Exemplare aus ein und derselben Form vor
handen. Jedes einzelne Stück ist ein besonderes kleines Kunstwerk für sich.
So lassen sie sich den Porzellanfiguren des achtzehnten Jahrhunderts vergleichen, an die zu er
innern ja überhaupt nahe liegt. Es finden sich manche verwandte Züge. Auch hier sind Dar
stellungen des Lebens gegeben, aber diese spiegeln freilich nicht so allgemein, wie die Terrakotten,
die Sitten und die Stimmung der Zeit wieder. In
den fürstlichen Fabriken zunächst für den Bedarf und den Glanz der Höfe hergestellt schildern die
Porzellanfiguren mehr das Leben der höfischen Gesellschaftskreise. Da das Material selbst als Kostbarkeit