I. ABSCHNITT: 1400 BIS 1500


SPÄTGOTIK
Von den drei großen Epochen, in die man die Weltgeschichte einteilt, Altertum, Mittelalter und Neuzeit, umfaßt das Mittelalter die zwischen dem Untergange des weströmischen Reiches im Jahre 476 und der Reformation zu Beginn des 16. Jahrhunderts hegenden Jahrhunderte. Wenn dies auch eine willkürliche zeitliche Begrenzung ist, denn die Zeit und mit ihr das Geschehen bleibt ja niemals an einem Punkte stehen, sondern fließt stets weiter, so ist doch der „Mittelalter“ genannte Zeitabschnitt eine Welt für sich, deren Verständnis sich uns modernen Menschen nur langsam erschließt. Eines der interessantesten Jahrhunderte des Mittel
alters ist das letzte, das 15., weil sich in ihm die beginnende Neuzeit schon in Einzelheiten ankündigt, anderseits aber der Geist des Mittelalters noch durchaus lebendig ist. Worin besteht nun aber das Wesen des Mittelalters? Vor allem darin, daß der Mensch als Einzelwesen nichts bedeutet, sondern nur als Mitglied einer Gemeinschaft. Diese Gemeinschaft, die ihm Macht, Rechte und Schutz gewährt, ist aber nicht wie heutzutage der Staat. An erster Stelle steht im Mittelalter die Kirche. Sie bestimmt nicht allem das religiöse Leben des Menschen, sie beherrscht sein ganzes Denken und Fühlen. Alles Tun geschieht im Hinblick auf die Lehren der christ
lichen Kirche. An zweiter Stelle steht die ständische Gliederung in Ritterstand, Bürgerstand und Bauernstand, die sehr streng gegeneinander abgeschlossen sind. Besitzen im frühen und hohen Mittelalter ausschließlich Geistlichkeit und Rittertum die Macht, so gelangt im späten Mittelalter mit dem Aufblühen der Städte das Bürgertum zu Ansehen. Das 14.—16. Jahr


hundert bilden die Höhepunkte bürgerlich-städtischer Macht. Und schließlich bestimmen das Leben des Einzelnen auch die Gemeinschaften, die sich innerhalb der ständischen Gliederung