XXIV. Jahrgang, No. 6
15. November 1905
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EINIGES ÜBER STIL UND KUNST.
Der kurze Hinweis auf den Verfall des Kunstgewerbes am Schlüsse des I. Teiles dieses Aufsatzes sollte kein Menetekel sein! Ich hebe dies umsomehr hervor,
als ich eingangs jenes Teiles mich der Auffassung
angeschlossen habe, daß sich beim Studium der Kunstgeschichte ein gewisser Kreislauf in der Wiederkehr gewisser Erscheinungen bemerkbar macht.
Hatte das Kunstgewerbe einst in Rokoko geschwelgt, war es bis zum Klassizismus nüchtern und steif geworden und ver
fiel es auch nach dem Aufflackern des Empire in fast völlige Erstarrung, so müssen wir doch berücksichtigen, daß nach dem gewaltigen Völkerringen zu Anfang des 19. Jahrhunderts eine allgemeine Darniederlage des ganzen gewerblichen und wirt
schaftlichen Lebens zu verzeichnen war. Die Wunden, welche Napoleon 1. den deutschen Landen und seinem eigenen Lande geschlagen hatte, machte dieses Niederliegen von Handel und Gewerbe zur Naturnotwendigkeit. Deutschland und Frankreich mußten sich erholen und sie taten es nur langsam.
Es machte sich zunächst eine Unsicherheit bemerkbar, welche an diejenige eines nach langer Krankheit endlich Genesenen
erinnerte. Man suchte nach einem neuen Stil, ohne ihn zu finden. Man verfiel bald auf diese, bald auf jene Stilart der Vergangen
heit, alles ohne glückliches Resultat. Wohl wandte man sich auch wieder der allezeit neuschaffenden Mutter Natur zu, aber auch hierbei kam man nicht zu dem gesuchten Erfolg. Ein starrer Naturalismus war das Ergebnis. So in Deutschland. Frankreich und England waren glücklicher gewesen. In Eng
land hat man nie die Solidität der Arbeit, in Frankreich nie die Eleganz der Formen aus dem Auge verloren. Daher kam es auch, daß bis Anfang des letzten Drittels des vorigen Jahrhunderts jährlich ungezählte Tausende ins Ausland wanderten. Eine schwere Schädigung des deutschen National Wohlstandes!
Aber mit der fortschreitenden Entwicklung suchte man auch hier reformierend einzugreifen. Die Gründung des Kunstgewerbemuseums in Berlin im Jahre 1867 und die später er
folgte des Bayrischen Gewerbemuseums in Nürnberg waren die ersten Schritte zur Besserung in deutschen Landen.
Es wurden nacheinander ähnliche Institute errichtet in einer Reihe deutscher, österreichischer und schweizerischer Städte.
Wie sich inzwischen Industrie, Technik und Kunst dieser Länder einen ersten Platz auf dem Weltmarkt erobert haben, istmänniglich bekannt. Auch sehen wir heute im Kunstgewerbe Künstler und Handwerker vielfach Hand in Hand gehen und deshalb ist es müßig, zu untersuchen, ob nach dem Aufblühen des «neuen Empire ein solcher Rückschlag eintreten kann, wie er nach dem Empire des großen Imperators eintrat!
Aber mehr denn je sind Stil, Kunst und Kunstgewerbe nicht nur oft zu hörende moderne Schlagwortc der Unterhaltung geworden, sie haben auch eine einflußreiche Bedeutung für die Gegenwart.
Unter Stil versteht man die einem Volke, einer Zeitperiode eigentümliche charakteristische Auffassung von dem, was als
schön anzusehen ist. Weiter ist Stil die unter der herrschenden Auffassung von «schön» durchgeführte Einheitlichkeit, Gesetz
mäßigkeit eines Gegenstandes, und man fordert deshalb von einem Erzeugnis des Kunstgewerbes, daß es Stil zeige, stilgerecht in seiner Darstellung und Form sei.
Es drängt sich deshalb die Frage auf: «Was haben wir aus der Vergangenheit, aus der geschichtlichen Entwickelung der Stile zu lernen?»
In erster Linie müssen wir uns darüber klar werden, daß unser heutiges Kunstgewerbe sich nicht als eine unmittelbare, direkte Nachahmung der Erzeugnisse früherer Zeiten geben darf, denn heute sind Anschauungen, Gebräuche und Ver
wendung vielfach andere als früher. Wir werden also nicht nur die auf uns gekommenen Produkte früherer Jahrhunderte kopieren dürfen, um etwas Stilgerechtes zu schaffen, sondern unsere Aufgabe besteht vielmehr darin, unter Verwertung und Beachtung der charakteristischen Eigentümlichkeiten, der Stilgesetze vergangener Blüteperioden der Kunst und des Kunst
gewerbes, unter Anpassen derselben an die Anforderungen der Gegenwart das moderne kunstgewerbliche Erzeugnis auszuarbeiten. Auch ist es unbedingt notwendig, auf das zu ver
wendende Material und die Grundform des zu schaffenden Gegenstandes weitgehende Rücksicht zu nehmen. Es darf bei
spielsweise keinesfalls geschehen, daß wir einen Hallenaufbau, eine Fensterform usw., welche im Geschmack des Empire ge
halten ist, und wäre sie noch so schön, einfach nachsetzen und kopieren, um daraus dann einen Umschlag oder einen Buch
titel zu machen. Zu welchen Unzuträglichkeiten — um nicht zu sagen Unsinnigkeiten — dies führen würde, wird uns sofort klar, wenn wir an die Satzgebilde der sogen, architektonischen Manier zurückdenken.
Auch das sklavische Nachalunen massiger Rahmenformen mit gekröpften und kassettierten Ecken usw., wie wir es in der Periode der Renaissance auch im Akzidenzsatz in fast un
heimlicher Ausdehnung gesehen haben, entsprach nicht dem Wesen einer zweckmäßigen Verzierung der Drucksachen, weil die Hauptsache derselben, der Wortlaut, dabei meist zu kurz kam, indem der Text aus zu kleinen Schriften in die wuchtige Umrahmung eingepfercht wurde.
Unsere Aufgabe ist also nochmals kurz zusammengefaßt: Das Schöne, Charakteristische an allen uns zu Gesichte kom
menden Erzeugnissen des Kunstgewerbes zu studieren, in uns aufzunehmen und dann in uns zu verarbeiten, die gemachten Studien und Erfahrungen für unsere Zwecke unter Berücksichtigung des uns zur Verfügung stehenden Materials zu ver
werten. Insbesondere ist eine klare Wiedergabe des Textes und
sinngemäße, einheitliche und damit stilvolle Dekoration der Papierfläche anzustreben.
Wenn wir unter diesen Voraussetzungen beginnen, heute wieder im Empirestil zu arbeiten, dann werden die Erzeugnisse auch für später noch kunstgewerblichen Wert besitzen.
W. Kattenbusch.