fand, allzu begierig nach eitlem Wissen — auch er ist stets hinter dem Vorhang geblieben.
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Doch es wäre falsch, Schnitzler als den Dichter der oberen Zehntausend jenes Wien darzustellen, dem es einst so gut ging. Nein, gerade mit einem Volksstück ist er zum erstenmal vor das Forum des Burgtheaterpublikums getreten, mit einem kecken Stück, das geradezu eine Revolution gegen die literarische Hoftheaterüberlieferung bedeutete und gegen das angestammte Abonnentenpublikum der Logen und des Nobelparketts. Welche Empö
rung, daß ein junger Dichter es wagt, das „süße Mädel — es war sein Lieblingskind — auf die Bühne des Burgtheaters zu tragen! Damals be
trachteten doch Adel und reiches Bürgertum diese Stätte als einen ihnen zugeeigneten Kunstbezirk! Diese „Liebelei , die 1893 Direktor Burckhard durch eine dichtgedrängte Menge von ängstlichen und entrüsteten Hofräten mit Hilfe kräftiger Ell
bogenstöße unversehrt ins Burgtheater trug, sie bedeutete schon deshalb ein Verbrechen, weil sie in der Vorstadt sjnelte, im Reiche des Dialekts, zuletzt sogar in einer Dachkammer! Und weil es sich da nicht um eine Liaison handelte, sondern um so einfache Leute, die nur ein Verhältnis haben — und die nicht miteinander soupieren, sondern bloß nachtmahlen.
Die größte Entrüstung aber erregte nicht diese Immoralität im Volk — schließlich kommen ja auch in hochklassischen Stücken Liebschaften ohne Heirat vor — sondern der arme, alte, unglückliche Vater Weyring. Er weiß, dieser hell
sichtige Greis, seine Tochter, dieses so ernste, edle Mädchen, „gehe“ mit ihrem Freund, ohne Aussicht zu haben, von ihm geheiratet zu werden, und er ersticht sie doch nicht! Er hätte sie morden müs
sen wie der ritterliche Vater Ernilia Galotti — in feierlicher Entrüstung, mit Degen und Pluder
hosen . . . Und Vater Weyring hatte doch geahnt, die arme Christine werde nie mehr ein anderes Liebesglück erleben, denn ihre Sonne werde bald erlöschen was ja auch eintrifft. Christine geht selbst in den Tod, das Opfer ihrer ersten, ihrer einzigen Liebe.
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Oft und oft hat man dem Dichter ein Übermaß von Erotik vorgeworfen, mit der seine Stücke und seine Novellen förmlich durchtränkt seien — als
ob es im Menschenleben kein anderes Problem gäbe als das der Sinne. Nun denn — es gibt keinen Meister des Dramas, der nicht begriffen hätte, das Geschick zweier Liebender, die einander beglücken oder verderben, sei stets jenes Geschehnis ge
wesen, das die Zuschauer zur stärksten Teilnahme gezwungen hätte. Schnitzler aber hat man zum
Vorwurf gemacht, bei ihm seien es hauptsächlich die Frauen, die gegen alle Pflicht und bürgerliche Moral der Leidenschaft erliegen.
Ganz nebenbei bemerkt: Zola, der doch das Theater mit geradezu seherischem Auge durchdrang so wie uns Menschen, Zola, dieser unerbitt
lich strenge Erzieher seines Volkes, hat einmal gemeint: Von anständigen Frauen allein könne das Theater nicht leben. Die braven Ehen gehören ins Leben, aber nicht auf die Bühne! Denn für die Zuschauer wären sie langweilig!
Arthur Schnitzler zu bezichtigen, er hätte jemals ein sogenanntes erotisches Stück der Pikanterie halber auf die Bühne gebracht — welche Lüge! Bei ihm spielen doch immer nur seelische Probleme die Hauptrolle.
Und jeder Fall einer Frau — man kann das Wort nehmen, wie man will — bedeutet für ihn die Lösung eines ungewöhnlichen psychischen Rätsels.
Die Alten haben den Dichter auch als Seher betrachtet und für beide Regriffe das Wort Vates gebraucht. Es ist wohl mehr als Zufall, daß Fabeln, die Schnitzler in Märchendramen oder Ge
sellschaftsstücken plastisch entwickelte, später irgendwo — meistens in Wien — in der Gesell
schaft sich auch wirklich ereigneten. Oder ereignet hatten, ohne daß Schnitzler es wußte!
Fast gleichzeitig, nachdem „Der Schleier der Beatrice“ an reichsdeutschen Bühnen neuerlich auf tauchte, ereignete sich — um nur einen Fall
anzuführen — in der Wiener Gesellschaft ein Drama, das dem Beatrices glich: Eine schöne, junge Wiener Dame beging Selbstmord. Ihres Gat
ten müde geworden, den sie aus Liebe geheiratet hatte, war sie einem Aristokraten gefolgt. Aber auch hier dauerte der Lenz nicht ewig. Sie will zurück zum Gatten — aber es ist zu spät. Es war ein tragisches Pendeln zwischen zwei Männern. Furcht vor dem Leben und Furcht vor dem Tode senkt sich in das Leben der Unglücklichen — bis der Lockruf des Todes den Schrei des Lebens übertönt.