Stilarchitektur und Baukunst.


Die unpopulärste Kunst ist heutzutage die Architektur. Infolge der Wandlungen der Baukunst im XIX. Jahrhundert ist die alte, in schöpferischen Epochen giltig gewesene Wahrheit, dass die Architektur Königin und Mutter aller bildenden Künste ist. zur bloßen Phrase herabgesunken. Noch mehr. Es ist die Frage entstanden, ob Architekten überhaupt Künstler seien. Denn man hat wahr
nehmen müssen, dass die Architekten im Laufe des vergangenen Jahr
hunderts im Banne der Überlieferung nur der rein formalen Seite ihrer
Aufgabe zugestrebt und aufgehört haben, in der Durchbildung des Zweckbegriffes das höchste Ziel zu sehen und dergestalt Werke zu schaffen, die der unmittelbare Aus
druck der Lebensforderungen waren. Sie schufen Bauten, in erster Linie um des Baues willen. Das Leben mochte
sehen, wie es hinter den Formen fertig wurde, die andere Zeiten, andere Völker, andere Culturen geliefert hatten, die Antike, die Gothik, die Renais
sance. In dieser babylonischen Wirrnis war die in früheren Glanzepochen lebendige Erkenntnis entschwunden, dass der aus dem Leben geschöpfte Zweck als der geistige Inhalt des Werkes die Form gebären muss, in deren Durchbildung sich von selbst das höchste in der Kunst ergibt: die Poesie. Die Erfassung und Durchführung der nur aus dem Wesen der Sache zu schöpfenden Gestaltungsmöglichkeit verlangt allerdings auch bei Aufgaben niederen Ranges eine bedeutende Schärfe, Regsamkeit und Klarheit des Geistes, eine Erregung der Phantasie zu hoher Spannung und die Fähigkeit, aus der besonderen Art der Aufgabe und aus der Eigenschaft des Materials die sachliche und sinngemäße Form zu schöpfen. Eine solche schöpferische Bauthätigkeit ist trotz oder vielleicht gerade wegen der ihr eigenen Zweck
bedingung Kunst im höchsten Sinne. Sie gibt den anderen Künsten einen festen Halt, sie ist von Natur aus zur Führung berufen. Man kann sagen, dass Architektur in den großen Blütezeiten die Kunst überhaupt war. Der malerische und plastische Schmuck, sowie die niederen Künste, das Handwerk
nämlich, standen im Dienste der Raumidee, die sie als Theile des architektonischen Gedankens zu jener straffen Einheit zusammenfasste, die uns innerhalb der westlichen Cultur zweimal in voller Reinheit und Selb
ständigkeit entgegentritt, im griechischen Alterthum und im nordischen Mittelalter. In der unmittelbar aus dem Volksempfinden quellenden gothischen Kunst erwächst unter der Führung der Architektur das Handwerk zu solcher Tüchtigkeit, dass es nicht nur den von der römischen Antike ausgehenden Renaissancegedanken mit Leichtigkeit zu bewältigen imstande ist, sondern noch drei Jahrhunderte später, im barocken Zeitalter, die vom höfischen und eccle
siastischen Prunkbedürfnisse dictierte Formensprache namentlich im deutschen
Süden so volksthümlich zu gestalten weiß, dass bis auf den kleinbürgerlichen und ländlichen Hausrath herab nur eine künstlerische Ausdrucksform
herrscht, und die Regungen einer durchaus einheitlichen Cultur noch im weltentlegensten Waldthal zu verspüren sind. Diese Einheit aller künstle
rischen Lebensäußerungen ergab den Stil. Als Vorbild hat er in jenen schöpferischen Epochen unmittelbar nicht geherrscht. Den dogmatischen Stilbegriff hat erst das XIX. Jahrhundert aus der geschichtlichen Betrachtung der Kunst abgeleitet. Winkelmanns Geschichte der Kunst des Alterthums steht an der Schwelle des XIX. Jahrhunderts. Selbst künstlerisch unfruchtbar,
aber von Bewunderung erfüllt für die Kunst der Alten, gieng es zunächst mit wissenschaftlichem Eifer an das Studium der alten Kunst heran. Das
Entscheidende ist, dass in dem geschichtlichen Betrachten die Nutzbauten aus dem Gebiete der Baukunst fast völlig ausgeschieden wurden. Die Kunstgeschichte bestimmt die Entwickelung der Architektur durch die Monumental
werke, durch das Grabmal, die Cultusstätte, den Tempel. Das Wahngebilde der griechischen Tempelfront schwebte damals dem Baukünstler bei der Lösung seiner Aufgabe vor, dem sich die Forderungen des praktischen Lebens unterordnen mussten. Die Flucht in das griechische Ideal ist der Zeit des politischen und wirtschaftlichen Katzenjammers durchaus eigenthümlich. Der schöne Schein musste über die Erbärmlichkeit der Gegenwart hinweg
helfen. Im Zeitalter der nüchternsten Verstandes- und Erwerbsthätigkeit huldigte die Architektur dem classischen Idealismus, der von der Literatur vorbereitet und genährt, blind gegen alle inneren Widersprüche machte. Dass ein so genialer Künstler wie Schinkel innerhalb dieser Befangenheit Werke von bedeutender eigener Schöpferkraft hervorzubringen wusste, ist nur ein Beleg zu Goethes Wort, dass auch große Männer mit ihrem Jahr
hundert durch eine Schwachheit Zusammenhängen. Im Übrigen wähnte man, eine neue Glanzepoche der Baukunst sei angebrochen, die Renaissancekünstler wären überboten, man verstände die antiken Formen „rein“ zu
Grabdenkmal der Familie G. Bruch ln Saarbrücken, vom Architekten C. Jagersberger.