und nicht auch zum Maler-Plastiker stempeln will. Im Gegenteil, Michelangelo modelliert die Übergänge der einzelnen Flächen ineinander weicher als der Orvietaner. Signorelli verwendet weiterhin, wie bekannt, in demselben Masse die nackte Gestalt und stark accentuierte Bewegungen. Beide Maler sind übrigens ja in diesem Beginnen nur ihren mittelalterlichen Vorgängern gefolgt, die ganz logisch geschlossen hatten, dass die Auferstehenden am jüngsten Tage ohne Gewand vor ihren Richter treten müssen. Michelangelo weicht allerdings in einem wesentlichen Punkte ab, insofern als er die heiligen Personen, auch die Madonna hüllenlos malt. Hier tritt der Mensch der Renaissancezeit hervor, das heisst, der den menschlichen Körper divinisierende Künstler der Periode der »Wiedererweckung der Antike« und der mittelalterlich supranaturalistisch fühlende Mensch prallen hart aufeinander. Kaum ein anderes Denkmal dieser ewig denkwürdigen Zeit lässt die beiden Strömungen, die sie beherrschten so offenkundig hervorbrechen, wie diese Malerei in diesem Teile. Gleichzeitig äussert sich auch das reine Empfinden eines grossen Menschen so hehr, so überwältigend, dass der Tadel Aretino’s wie die personifizierte gemeine Gesinnung wirkt.
Die Gruppenbildung dürfte meines Erachtens im einzelnen schwerlich plastischer gedacht sein, als es bei den Florentinern überhaupt üblich war. Die Responsion der kleineren und grösseren Abteilungen der Komposition, wie die der einzelnen Personen ist jedenfalls nicht wesentlich »plastischer«, als wir sie sonst sehen. Man denke sich alle Personen bekleidet — dann würden sich die vermissten feineren Übergänge wohl von selbst ergeben. Im übrigen sind die kompakten sechs beziehungsweise neun Gruppenmassen — abgesehen wurde von den Eckgruppen — unter sich soweit verbunden worden, dass die Übersichtlichkeit und der Zusammenhang nicht Schaden litt; wie andererseits die kleinen Unterabteilungen auch unter sich hinreichend in Beziehung zu einander gesetzt sind. Auf die vielen Feinheiten in der Abwägung, der Verknüpfung (besonders durch Überschneidungen) und der Trennung hinzuweisen, ist nicht meine Absicht — ich möchte nur hervorheben, wie sicher und ohne Härte die Verdammten von den Seligen rechts geschieden sind. Diese Seite hat der Meister voraneilen lassen, sie ist auch über die vordersten der Hinabgeschleuderten bereits nahezu hinweggeschwebt; ein schmaler Streifen liegt ohne Verbindungsglieder zwischen beiden Gruppen — es ist das einzige Mal, dass der Künstler jede Verschlingung der Teile aufhören lässt. Denn diese Stürzenden werden nie, in alle Ewigkeit nicht mit den Himmelsbewohnern irgend eine Gemeinschaft haben. Die immer wieder gemachte Bemerkung, dass der dies irae ausschliesslich vorherrsche, dass das Mienenspiel zu Gunsten der Körperbewegung, das heisst die plastische Anschauung die malerische zu sehr unterdrücke, ist meines Erachtens unangebracht. Die letztere Bemerkung kann man geradezu umkehren. Wer einmal mit Müsse eine ganz grosse Photographie oder scharfe Lichtbilder von ein paar
Meter Höhe und Breite betrachtet hat, wird im Gegenteil darüber staunen, wie ausgeprägt das Mienenspiel ist. (Das Original bietet heute fast weniger als eine Photographie.)
Zuerst die Stimmung des dies irae. Gewiss herrscht der Schrecken vor, er muss es. Denn den Seligen musste das Mark in den Knochen erfrieren bei dem Hören des Wortes: auf ewig verflucht. Michelangelo lässt trotzdem die Seligkeit, auf alle Zeiten wieder vereinigt zu sein auch zum vollen Ausdruck dadurch gelangen, dass er dieses Gefühl stets von neuem hervorbrechen lässt. Es äussert sich am stärksten in mehreren Punkten links, dann rechts zu Füssen des Heilandes, zweimal in den ihn einrahmenden Gruppen rechts und ein drittes Mal ebendort, wird aber in diesem Falle durch das ausgesprochene Urteil jäh unterbrochen. Die Frau ergreift noch liebevoll, aber bereits wie halb gelähmt die Hand des sitzenden Mannes, die Augen sind starr geöffnet. Stummes Entsetzen schüttelt sie. Schrecken, Grausen, schauderndes Erstaunen, Unglauben gegen die eigenen Ohren, Mitleid, aber auch heischende
Rachgier — alle diese Empfindungen äussern sich auf das deutlichste in all’ den vielen Gesichtern, die von nah und fern den Heiland umdrängen. Der tief erschreckte, fast zweifelnde Ausdruck im Gesichte des zurückfahrenden Johannis des Täufers; der tief bekümmerte in dem der alten Frau neben ihm, die abwehrend die Hände erhebt; der fassungslose in dem des jungen Weibes, das sich den Mund mit der Hand in bezeichnender Weise bedeckt; das Fragen mit hervorquellenden grossen Augen im Antlitze des Paulus (?), der nämliche nur abgeschwächtere Ausdruck im Gesichte des jungen Mannes neben ihm, das fast neugierige Zuhorchen des oben sich herüberbeugenden Jünglings u. s. w. — wo ist ein Antlitz, das ohne Mienenspiel der tieferregten Seele Aussprache verleiht? Die Hände, die Körperbewegungen begleiten, unterstützen natürlich die Sprache der Gesichtszüge, aber dies versteht sich von selbst, muss geschehen; insbesondere bei einem südlichen Volke. Untersucht man hiergegen auf die Sprache der Gesichter die entsprechenden Bilder von der Hand des Malers Rubens, so findet man in dieser Hinsicht weit weniger. Es ist aber noch niemandem beigefallen, des mangelnden Mienenspieles und des Hervortretens der nackten Leiber halber Rubens denen beizuzählen, die eine »plastische Phantasie« in ihren Bildern sich äussern lassen. Wenn trotzdem in dem Michelangeloschen Werke der Plastiker sich stark bemerkbar macht, in den Rubens’schen Bildern auch trotzdem der Maler allein herrscht, so liegt das einzig und allein an der Komposition, an Licht und Farbe. Michelangelo ist dann Rubens gegenüber in der That der Maler-Plastiker; er ist es dann aber im wesentlichen nur in genereller Auffassung, als Vertreter der florentinisch-römischen Schule, weit weniger in speziell michelangeleskem Sinne. Michelangelo als Person ist, um es noch einmal kurz zu formulieren, im Sinne seiner Epoche im jüngsten Gerichte weit mehr Maler als ihm bislang zugestanden worden ist, und gehört dem Mittelalter