KUNSTCHRONIK WOCHENSCHRIFT FÜR KUNST UND KUNSTGEWERBE
Verlag von E. A. SEEMANN in Leipzig, Querstr. 13 Neue Folge. XIV. Jahrgang 1902/1903
Nr. 7. 27. November
Die Kunstchronik erscheint als Beiblatt zur »Zeitschrift für bildende Kunst« und zum »Kunstgewerbeblatt« monatlich dreimal, in den Sommermonaten Juli bis September monatlich einmal. Der Jahrgang kostet 8 Mark und umfasst 33 Nummern. Die Abonnenten der »Zeitschrift für bildende Kunst« erhalten die Kunstchronik kostenfrei. — Für Zeichnungen, Manuskripte etc., die unverlangt eingesandt werden, leisten Redaktion und Verlagshandlung keine Gewähr. Alle Briefschaften und Sendungen sind zu richten an E. A. Seemann, Leipzig, Querstrasse 13. Anzeigen 30 Pf. für die dreispaltige Petitzeile, nehmen ausser der Verlagshandlung die Annoncenexpeditionen von H aasen st ei n & Vogler, Rud. Mosse u. s. w. an.
BENVENUTO CELLINI IN FONTAINEBLEAU
L. Dimier, dem wir ein recht gutes Werk über die Anfänge der Renaissance in Frankreich verdanken (Le Primatice, peintre, sculpteur et architecte des rois de France, Essai sur la vie et les ouvrages de cet artiste, suivi d’un catalogue raisonné de ses dessins et de ses compositions gravées. Paris, Ernest Leroux, éditeur. 28, rue Bonaparte, 1900. VIII und 595 S.), behandelt den Gegner seines Helden, den bekannten Benvenuto Cellini, mit einer Härte, die man geradezu als unbillig empfinden muss. Es wird ja gewiss niemand leugnen, dass Cellini ein sehr starkes Gefühl seiner eigenen Bedeutung besitzt und leicht dazu übergeht, andere Künstler neben seiner Person herabzudrücken und jede Bevorzugung dieser als ein ihm selbst zugefügtes Unrecht zu empfinden; man wird weiter auch nicht leugnen, dass, wie schon der Herausgeber seiner Memoiren hervorhebt, »unter diesen Erzählungen sich manches findet, was zum Nachteil anderen gereicht und keinen völligen Glauben verdienen dürfte. Nicht als wenn der Autor seine brennende Wahrheitsliebe hier und da verleugne, sondern weil er sich zu Zeiten, entweder von dem unbestimmten und oft betrügerischen Ruf oder von übereilten Vermutungen hinreissen lässt, wodurch er sich denn ohne seine Schuld betrogen haben mag«. — »Aber diese bösen Nachreden nicht allein könnten das Werk manchem verdächtig machen, sondern auch die unglaublichen Dinge, die er erzählt, möchten viel hierzu beitragen, wenn man nicht bedächte, dass er doch alles aus Überzeugung gesagt haben könne, indem er Träume oder leere Bilder einer kranken Einbildungskraft als wahre und wirkliche Gegenstände gesehen zu haben glaubt. Daher lassen sich die Geistererscheinungen wohl erklären, wenn er erzählt, dass bei den Beschwörungen betäubendes Räucherwerk gebraucht worden, ingleichen die Visionen, wo durch Krankheit, Unglück, lebhafte schmerzliche Gedanken, am meisten aber durch Einsamkeit und eine unveränderte Lage des Körpers der Unterschied zwischen Wachen und Träumen völlig verschwinden konnte.« u. s. w.
Doch abgesehen von solchen Dingen hat man im allgemeinen den Bericht, den Benvenuto von seinem Leben giebt, als auf Thatsachen beruhend angesehen
und hat seine Memoiren als wertvollen Beitrag zur Erkenntnis der Geschichte seiner Zeit betrachtet. Aber ein derartiger Wert kommt der Selbstbiographie Cellini’s nicht zu, wenn L. Dimier recht hat, der nicht nur an vielen anderen Punkten dem Florentiner Unwahrheiten nachzuweisen versucht, sondern auch vor allen Dingen die bekannte Erzählung Benvenuto’s von der Vorführung seiner Jupiterstatue in Fontainebleau und seinem Triumph über Madame d’Etampes, die ihn demütigen und die ihm zugedachten Arbeiten einem anderen Künstler, dem Primaticcio, genannt Bologna, zuschanzen wollte, als einfache Erfindung bezeichnet.
Der Grund dafür ist folgender. Nach den Berechnungen Dimier’s aus den Memoiren Cellini’s muss die Vorführung des Jupiter vor dem Könige und seinem Hofe in der Galerie von Fontainebleau zwischen dem 28. Mai (das ist der früheste Termin) und dem 28. November (das ist der späteste Termin) stattgefunden haben. Nun ist nach dem Tagebuch Franz des Ersten während dieser ganzen Zeit der König und der Hof niemals in Fontainebleau gewesen, folglich — ich muss hier das Wort Herrn Dimier selbst lassen (Rev. arch. 1898 I, S. 241 ff.): Le contrâle est direct et la preuve péremptoire. C’est ane légende de plus â proscrire, an chapitre â mettre au rang des fables, et, dans la galerie grossissante des mascarades de l’histolre, an nouvel et brillant exemple des intempérantes fantaisies dont noas auront dapés les auteurs de mérnoires. Er meint also, dass die ganze Geschichte einfach auf Erfindung beruht, nichts anderes als eine Phantasie des Künstlers ist.
Da ist es nun sehr erfreulich, dass von anderer Seite ein Bericht ans Licht gezogen wird, der dieselbe Scene schildert und dadurch zur Kontrolle der Wahrhaftigkeit Cellini’s verwendet werden kann. Es handelt sich um einen Brief des Giulio Alvarotti, der in jener Zeit Gesandter des Fürsten von Ferrara am Hofe des französischen Königs war, datiert aus Melun vom 29. Januar 1545; der Briefschreiber muss entweder Augenzeuge der geschilderten Scene gewesen sein oder sie gleich nach dem Hergange von Cellini selbst oder einem seiner Freunde erfahren haben. Der Brief stammt aus den Staatsarchiven von Modena und ist von dem Archivar M. Ognibene dem Herrn L. Dimier zugesandt worden, der ihn so
Verlag von E. A. SEEMANN in Leipzig, Querstr. 13 Neue Folge. XIV. Jahrgang 1902/1903
Nr. 7. 27. November
Die Kunstchronik erscheint als Beiblatt zur »Zeitschrift für bildende Kunst« und zum »Kunstgewerbeblatt« monatlich dreimal, in den Sommermonaten Juli bis September monatlich einmal. Der Jahrgang kostet 8 Mark und umfasst 33 Nummern. Die Abonnenten der »Zeitschrift für bildende Kunst« erhalten die Kunstchronik kostenfrei. — Für Zeichnungen, Manuskripte etc., die unverlangt eingesandt werden, leisten Redaktion und Verlagshandlung keine Gewähr. Alle Briefschaften und Sendungen sind zu richten an E. A. Seemann, Leipzig, Querstrasse 13. Anzeigen 30 Pf. für die dreispaltige Petitzeile, nehmen ausser der Verlagshandlung die Annoncenexpeditionen von H aasen st ei n & Vogler, Rud. Mosse u. s. w. an.
BENVENUTO CELLINI IN FONTAINEBLEAU
L. Dimier, dem wir ein recht gutes Werk über die Anfänge der Renaissance in Frankreich verdanken (Le Primatice, peintre, sculpteur et architecte des rois de France, Essai sur la vie et les ouvrages de cet artiste, suivi d’un catalogue raisonné de ses dessins et de ses compositions gravées. Paris, Ernest Leroux, éditeur. 28, rue Bonaparte, 1900. VIII und 595 S.), behandelt den Gegner seines Helden, den bekannten Benvenuto Cellini, mit einer Härte, die man geradezu als unbillig empfinden muss. Es wird ja gewiss niemand leugnen, dass Cellini ein sehr starkes Gefühl seiner eigenen Bedeutung besitzt und leicht dazu übergeht, andere Künstler neben seiner Person herabzudrücken und jede Bevorzugung dieser als ein ihm selbst zugefügtes Unrecht zu empfinden; man wird weiter auch nicht leugnen, dass, wie schon der Herausgeber seiner Memoiren hervorhebt, »unter diesen Erzählungen sich manches findet, was zum Nachteil anderen gereicht und keinen völligen Glauben verdienen dürfte. Nicht als wenn der Autor seine brennende Wahrheitsliebe hier und da verleugne, sondern weil er sich zu Zeiten, entweder von dem unbestimmten und oft betrügerischen Ruf oder von übereilten Vermutungen hinreissen lässt, wodurch er sich denn ohne seine Schuld betrogen haben mag«. — »Aber diese bösen Nachreden nicht allein könnten das Werk manchem verdächtig machen, sondern auch die unglaublichen Dinge, die er erzählt, möchten viel hierzu beitragen, wenn man nicht bedächte, dass er doch alles aus Überzeugung gesagt haben könne, indem er Träume oder leere Bilder einer kranken Einbildungskraft als wahre und wirkliche Gegenstände gesehen zu haben glaubt. Daher lassen sich die Geistererscheinungen wohl erklären, wenn er erzählt, dass bei den Beschwörungen betäubendes Räucherwerk gebraucht worden, ingleichen die Visionen, wo durch Krankheit, Unglück, lebhafte schmerzliche Gedanken, am meisten aber durch Einsamkeit und eine unveränderte Lage des Körpers der Unterschied zwischen Wachen und Träumen völlig verschwinden konnte.« u. s. w.
Doch abgesehen von solchen Dingen hat man im allgemeinen den Bericht, den Benvenuto von seinem Leben giebt, als auf Thatsachen beruhend angesehen
und hat seine Memoiren als wertvollen Beitrag zur Erkenntnis der Geschichte seiner Zeit betrachtet. Aber ein derartiger Wert kommt der Selbstbiographie Cellini’s nicht zu, wenn L. Dimier recht hat, der nicht nur an vielen anderen Punkten dem Florentiner Unwahrheiten nachzuweisen versucht, sondern auch vor allen Dingen die bekannte Erzählung Benvenuto’s von der Vorführung seiner Jupiterstatue in Fontainebleau und seinem Triumph über Madame d’Etampes, die ihn demütigen und die ihm zugedachten Arbeiten einem anderen Künstler, dem Primaticcio, genannt Bologna, zuschanzen wollte, als einfache Erfindung bezeichnet.
Der Grund dafür ist folgender. Nach den Berechnungen Dimier’s aus den Memoiren Cellini’s muss die Vorführung des Jupiter vor dem Könige und seinem Hofe in der Galerie von Fontainebleau zwischen dem 28. Mai (das ist der früheste Termin) und dem 28. November (das ist der späteste Termin) stattgefunden haben. Nun ist nach dem Tagebuch Franz des Ersten während dieser ganzen Zeit der König und der Hof niemals in Fontainebleau gewesen, folglich — ich muss hier das Wort Herrn Dimier selbst lassen (Rev. arch. 1898 I, S. 241 ff.): Le contrâle est direct et la preuve péremptoire. C’est ane légende de plus â proscrire, an chapitre â mettre au rang des fables, et, dans la galerie grossissante des mascarades de l’histolre, an nouvel et brillant exemple des intempérantes fantaisies dont noas auront dapés les auteurs de mérnoires. Er meint also, dass die ganze Geschichte einfach auf Erfindung beruht, nichts anderes als eine Phantasie des Künstlers ist.
Da ist es nun sehr erfreulich, dass von anderer Seite ein Bericht ans Licht gezogen wird, der dieselbe Scene schildert und dadurch zur Kontrolle der Wahrhaftigkeit Cellini’s verwendet werden kann. Es handelt sich um einen Brief des Giulio Alvarotti, der in jener Zeit Gesandter des Fürsten von Ferrara am Hofe des französischen Königs war, datiert aus Melun vom 29. Januar 1545; der Briefschreiber muss entweder Augenzeuge der geschilderten Scene gewesen sein oder sie gleich nach dem Hergange von Cellini selbst oder einem seiner Freunde erfahren haben. Der Brief stammt aus den Staatsarchiven von Modena und ist von dem Archivar M. Ognibene dem Herrn L. Dimier zugesandt worden, der ihn so