KUNSTCHRONIK WOCHENSCHRIFT FÜR KUNST UND KUNSTGEWERBE
Verlag von E. A. SEEMANN in Leipzig, Querstr. 13 Neue Folge. XIV. Jahrgang 1902/1903
Nr. 19. 20. März.
Die Kunstchronik erscheint als Beiblatt zur »Zeitschrift für bildende Kunst« und zum »Kunstgewerbeblatt« monatlich dreimal, in den Sommermonaten Juli bis September monatlich einmal. Der Jahrgang kostet 8 Mark und umfasst 33 Nummern. Die Abonnenten der »Zeitschrift für bildende Kunst« erhalten die Kunstchronik kostenfrei. — Für Zeichnungen, Manuskripte etc., die unverlangt eingesandt werden, leisten Redaktion und Verlagshandlung keine Gewähr. Alle Briefschaften und Sendungen sind zu richten an E. A. Seemann, Leipzig, Querstrasse 13. Anzeigen 30 Pf. für die dreispaltige Petitzeile, nehmen ausser der Verlagshandlung die Annoncenexpeditionen von Haasenstein & Vogler, Rud. Mosse u. s. w. an.
FÜR HUBERT UND JAN VAN EYCK!
Was würden die Archäologen wohl darum geben, wenn sie eine photographische Originalaufnahme des Zeus von Olympia besässen! Niemals werden wir zu einer anschaulichen Vorstellung dieses gänzlich untergegangenen höchsten Kunstwerkes der Antike gelangen: es ist unwiederbringlich dahin, die theoretischen Rekonstruktionsarbeiten der Archäologen bereichern bestenfalls nur unser abstraktes Wissen. Ja, würden die Archäologen nicht überhaupt mit Freuden den ganzen Statuenwald römischer Repliken griechischer Originale hingeben, wenn sie dagegen gute photographische Aufnahmen der untergegangenen griechischen Originale in Eintausch bekämen?
Der Aufschwung der neueren Kunstwissenschaft hängt mit der Vervollkommnung zweier Erfindungen zusammen: der Eisenbahn und der Photographie. Die Eisenbahn ermöglicht uns, rasch und bequem zu den Original- Kunstwerken zu gelangen, die Photographie giebt die beste Unterlage zur Vergleichung der Originale, die wir niemals unmittelbar nebeneinder betrachten können. Nebstbei bietet die Photographie jenen, denen das Reisen verwehrt ist, den schlechterdings besten und zuverlässigsten Ersatz für die Originale. Und schliesslich ist die Photographie für weltberühmte Kunstwerke in gewissem Sinne das, was der Buchdruck für die Werke grosser Dichter ist: eine Vorbeugung dafür, dass diese, die Menschheit aufs höchste interessierenden Dinge niemals, durch keine ausdenkbare Katastrophe, gänzlich und spurlos von der Erde verschwinden können.
Nun, ist es da nicht zum Lachen — zum Hohnlachen! — und muss es nicht die stärkste Entrüstung hervorrufen, wenn wir sehen, dass in diesen unseren so begünstigten Zeiten ausgesucht gerade das grossartigste Malerwerk der christlichen Kunst, der singuläre Genter Altar der Brüder Hubert und Jan van Eyck an den Segnungen der so ausserordentlich vervollkommneten Photographie keinen Anteil haben soll! Der Altar besteht bekanntlich aus 20 Tafeln, die sämtlich, wie durch ein Wunder, ausgezeichnet erhalten, aber leider für immer getrennt, an drei weit auseinander liegenden Orten aufbewahrt werden: in Berlin, Gent und Brüssel. Es existiert nicht eine einzige Totalreproduktion dieses Wunderwerkes, die
seiner einigermassen würdig wäre. Und zwar verstehen wir unter »würdiger« photographischer Reproduktion hier dreierlei. Erstens: Wiedergabe der 20Tafeln in präzise einheitlichem Massstab, samt den alten Rahmen, so weit diese noch vorhanden sind. Nur so lässt sich der Altar wirklich rekonstruieren und eine für alle Zwecke — für die Forschung und für den Genuss — ausreichende Totalvorstellung von ihm gewinnen. Zweitens: bedeutende Grösse der photographischen Wiedergabe. Drittens: eine photographische Wiedergabe, die auf der heute erreichten Höhe dieser Technik steht. Es sind dies Forderungen, die sich — wie jeder zugeben wird — eigentlich von selbst verstehen. Aber: weshalb wurde ihnen bis auf den heutigen Tag nicht genügt? Um es kurz zu sagen: in Berlin und in Brüssel besteht kein Hindernis, im Gegenteil, an diesen Orten waltet sogar der beste Wille vor, zur Ermöglichung jener ersehnten Totalaufnahme die Hand zu bieten. Nur Gent sträubt sich, sträubt sich durchaus, sträubt sich unerbittlich: non possumus. ln Gent müssten die dort vorhandenen vier Tafeln aus der kleinen dunklen Kapelle, in der sie sich befinden, zwecks Photographierung ins Freie gebracht werden, auch müsste eine Reinigung der Tafeln, nicht etwa eine Restaurierung, nein eine einfache, selbst den Firnis unangetastet lassende Säuberung von Staub und Schmutz dem Photographieren vorangehen. Die hohe Geistlichkeit in Gent schreckt vor diesen »Wagnissen« zurück. Gewiss ist es anerkennenswert, dass man dort diesen einzigen Schatz gleich dem Augapfel hütet. Tausendfaches Beispiel in allen öffentlichen und privaten Kunstsammlungen Europas sowie in vielen Kirchen beweist indessen, dass jene Zurückhaltung, die man in Gent unbeugsam beobachtet, weit über das Ziel hinausschiesst. Wie grenzenlos verbreitet in alle Welt ist durch schlechte, aber doch auch durch gute und ausgezeichnete Photographien das schönste Gemälde der romanischen Malerei: Raffael’s Sixtinische Madonna! Wer, abgesehen von den Fachmännern und den kleinen durch sie angeregten Schichten, kennt das edelste Kunstwerk germanischen Ursprungs, den Genter Altar der Brüder van Eyck?
Der deutsche Reichstag hat die Mittel dazu bewilligt, die Malereien der Sixtinischen Kapelle in Rom in guten Reproduktionen zu publizieren. Es handelt sich hierbei um viele Zehntausende von Mark. Wäre
Verlag von E. A. SEEMANN in Leipzig, Querstr. 13 Neue Folge. XIV. Jahrgang 1902/1903
Nr. 19. 20. März.
Die Kunstchronik erscheint als Beiblatt zur »Zeitschrift für bildende Kunst« und zum »Kunstgewerbeblatt« monatlich dreimal, in den Sommermonaten Juli bis September monatlich einmal. Der Jahrgang kostet 8 Mark und umfasst 33 Nummern. Die Abonnenten der »Zeitschrift für bildende Kunst« erhalten die Kunstchronik kostenfrei. — Für Zeichnungen, Manuskripte etc., die unverlangt eingesandt werden, leisten Redaktion und Verlagshandlung keine Gewähr. Alle Briefschaften und Sendungen sind zu richten an E. A. Seemann, Leipzig, Querstrasse 13. Anzeigen 30 Pf. für die dreispaltige Petitzeile, nehmen ausser der Verlagshandlung die Annoncenexpeditionen von Haasenstein & Vogler, Rud. Mosse u. s. w. an.
FÜR HUBERT UND JAN VAN EYCK!
Was würden die Archäologen wohl darum geben, wenn sie eine photographische Originalaufnahme des Zeus von Olympia besässen! Niemals werden wir zu einer anschaulichen Vorstellung dieses gänzlich untergegangenen höchsten Kunstwerkes der Antike gelangen: es ist unwiederbringlich dahin, die theoretischen Rekonstruktionsarbeiten der Archäologen bereichern bestenfalls nur unser abstraktes Wissen. Ja, würden die Archäologen nicht überhaupt mit Freuden den ganzen Statuenwald römischer Repliken griechischer Originale hingeben, wenn sie dagegen gute photographische Aufnahmen der untergegangenen griechischen Originale in Eintausch bekämen?
Der Aufschwung der neueren Kunstwissenschaft hängt mit der Vervollkommnung zweier Erfindungen zusammen: der Eisenbahn und der Photographie. Die Eisenbahn ermöglicht uns, rasch und bequem zu den Original- Kunstwerken zu gelangen, die Photographie giebt die beste Unterlage zur Vergleichung der Originale, die wir niemals unmittelbar nebeneinder betrachten können. Nebstbei bietet die Photographie jenen, denen das Reisen verwehrt ist, den schlechterdings besten und zuverlässigsten Ersatz für die Originale. Und schliesslich ist die Photographie für weltberühmte Kunstwerke in gewissem Sinne das, was der Buchdruck für die Werke grosser Dichter ist: eine Vorbeugung dafür, dass diese, die Menschheit aufs höchste interessierenden Dinge niemals, durch keine ausdenkbare Katastrophe, gänzlich und spurlos von der Erde verschwinden können.
Nun, ist es da nicht zum Lachen — zum Hohnlachen! — und muss es nicht die stärkste Entrüstung hervorrufen, wenn wir sehen, dass in diesen unseren so begünstigten Zeiten ausgesucht gerade das grossartigste Malerwerk der christlichen Kunst, der singuläre Genter Altar der Brüder Hubert und Jan van Eyck an den Segnungen der so ausserordentlich vervollkommneten Photographie keinen Anteil haben soll! Der Altar besteht bekanntlich aus 20 Tafeln, die sämtlich, wie durch ein Wunder, ausgezeichnet erhalten, aber leider für immer getrennt, an drei weit auseinander liegenden Orten aufbewahrt werden: in Berlin, Gent und Brüssel. Es existiert nicht eine einzige Totalreproduktion dieses Wunderwerkes, die
seiner einigermassen würdig wäre. Und zwar verstehen wir unter »würdiger« photographischer Reproduktion hier dreierlei. Erstens: Wiedergabe der 20Tafeln in präzise einheitlichem Massstab, samt den alten Rahmen, so weit diese noch vorhanden sind. Nur so lässt sich der Altar wirklich rekonstruieren und eine für alle Zwecke — für die Forschung und für den Genuss — ausreichende Totalvorstellung von ihm gewinnen. Zweitens: bedeutende Grösse der photographischen Wiedergabe. Drittens: eine photographische Wiedergabe, die auf der heute erreichten Höhe dieser Technik steht. Es sind dies Forderungen, die sich — wie jeder zugeben wird — eigentlich von selbst verstehen. Aber: weshalb wurde ihnen bis auf den heutigen Tag nicht genügt? Um es kurz zu sagen: in Berlin und in Brüssel besteht kein Hindernis, im Gegenteil, an diesen Orten waltet sogar der beste Wille vor, zur Ermöglichung jener ersehnten Totalaufnahme die Hand zu bieten. Nur Gent sträubt sich, sträubt sich durchaus, sträubt sich unerbittlich: non possumus. ln Gent müssten die dort vorhandenen vier Tafeln aus der kleinen dunklen Kapelle, in der sie sich befinden, zwecks Photographierung ins Freie gebracht werden, auch müsste eine Reinigung der Tafeln, nicht etwa eine Restaurierung, nein eine einfache, selbst den Firnis unangetastet lassende Säuberung von Staub und Schmutz dem Photographieren vorangehen. Die hohe Geistlichkeit in Gent schreckt vor diesen »Wagnissen« zurück. Gewiss ist es anerkennenswert, dass man dort diesen einzigen Schatz gleich dem Augapfel hütet. Tausendfaches Beispiel in allen öffentlichen und privaten Kunstsammlungen Europas sowie in vielen Kirchen beweist indessen, dass jene Zurückhaltung, die man in Gent unbeugsam beobachtet, weit über das Ziel hinausschiesst. Wie grenzenlos verbreitet in alle Welt ist durch schlechte, aber doch auch durch gute und ausgezeichnete Photographien das schönste Gemälde der romanischen Malerei: Raffael’s Sixtinische Madonna! Wer, abgesehen von den Fachmännern und den kleinen durch sie angeregten Schichten, kennt das edelste Kunstwerk germanischen Ursprungs, den Genter Altar der Brüder van Eyck?
Der deutsche Reichstag hat die Mittel dazu bewilligt, die Malereien der Sixtinischen Kapelle in Rom in guten Reproduktionen zu publizieren. Es handelt sich hierbei um viele Zehntausende von Mark. Wäre