Hervorhebung der Hauptmomente der Entwickelung mangelt, kann man sich freilich nicht verhehlen. Geschichte und Kunstgeschichte sind überhaupt nicht in durchgängige Beziehung gebracht, die erstere wird vielmehr zuerst auf zwölf Seiten mit der Schnelligkeit des Orientexpresszuges durchgejagt. Dann nimmt das Ganze mehr die Form der Reisebeschreibung an, wenn auch so, dass der Besucher in einer gewissen chronologischen und systematischen Ordnung an die Denkmäler herantritt. Dabei tauchen vor ihm die Erinnerungen aus Geschichte und Lokalmythe auf. Nachrichten der byzantinischen Historiker und europäischen Reisenden seit dem 16. Jahrhundert (Gyllius) werden herangezogen. Der Verfasser legt eine staunenswerte Belesenheit in Quellenmaterial an den Tag, und seine überaus lebendige Phantasie ruft überall die Bilder der Vergangenheit wach, und mit Vorliebe solche von anekdotischem Charakter, schnell hingeworfen in einer abgerissenen und mitunter überschwenglichen Diktion. Die flottesten Wendungen und Ausdrücke der modernsten Gesprächsrede wechseln mit fremdsprachlichen (z. B. die »Religiösen« für die Geistlichen) und selbstgeschaffenen, poetisch gefärbten oder hochtönenden klassischen Worten. Vielleicht die Hälfte der Sätze hat kein Prädikat. Auf eine Auslese geradezu erheiternder Redeblüten verzichte ich, um keine Vorurteile gegen das Buch zu erwecken. »Flutenströmende Wolkenbeutelund »Dolchstoss ins Auge«, mögen als Proben genügen. Der Verfasser ist offenbar Prediger und ein gesprächiger Herr, dessen Geplauder man gern zuhört. Gedruckt wirkt es aber doch etwas kraus. Wenn er seinen Stil etwas mehr gezügelt und ausgefeilt hätte, könnte man an der Frische desselben seine Freude haben, wie das in besser geschriebenen Teilen des Buches der Fall ist. Im besten Falle nimmt man solche Dinge als Curiosa mit, — freilich auf Kosten des Verfassers. Denn man kann schwer ernst bleiben, wenn nicht nur die Agia Sophia immer wieder als »Sophie« apostrophiert wird, sondern fast jedes einen tieferen Eindruck ausübende Denkmal, ja wenn selbst ein Verde-antico-Sarkophag vor der Pantokrator-Kirche befragt wird: »alter Grünstein, Du schlossest vielleicht in Deiner Höhlung die Gebeine Manuels u. s. w.« In der Eile schlüpft dann wohl auch in Namen und in den zahlreichen meist unübersetzten Citaten aus jeder Sprache mancher Lapsus durch, wie »Symplejaden(statt -»gaden«) oder i*. ßayyojv (statt ßdOmov). Trotz dieser kleinen Nachlässigkeiten, die nicht ungerügt bleiben konnten, haben wir es jedoch mit einem hübschen und sehr inhaltreichen Buche zu thun. Man wird die althergebrachten allgemeinen Urteile über die Verrottung, Erstarrung, Heuchelei u. s. w. der Byzantiner und die Neigung, romantisch zu färben, auch noch schadlos hinnehmen, man wird die Schwäche der technischen und stilistischen Durchdringung der Denkmäler, wie die Sachen liegen, nachsehen können. Was dem Verfasser darin abgeht, ersetzt er zum Teil durch ein offenes natürliches Verständnis und durch eine sehr lebendige und im allgemeinen sichere ästhetische Empfindung, so dass seine Schilderung z. B. der Agia Sophia mit Genuss zu lesen ist. Und er ist in dem Gewirr der Stadtteile und Vororte Konstantinopels in seltener Weise zu Hause. Auch alle die kleineren Kirchen (jetzt Moscheen) scheint er zu kennen. Nur darf man von ihm nicht erwarten, dass er über ihre ursprüngliche Benennung und Gestalt oder gar ihre architekturgeschichtliche Stellung sichere Auskunft zu geben weiss. Sie stehen ihm und dem Leser immer in dem Bilde der Gegenwart vor Augen, gesehen mit dem Blicke des Laien. Dass dabei auch im einzelnen mancher Irrtum und manche ge
wagte Erklärung unterläuft, kann nicht ausbleiben. Falsch ist z. B., um nur das Auffälligste zu vermerken und von Zweifelhaftem abzusehen, wenn in der A. Sophia das kaiserliche Euktirion (statt im Südschiff) da vorausgesetzt wird, wo sich heute die Sultansloge befindet, dass in der Apsis Christus mit ausgebreiteten Armen dargestellt sei (es ist vielmehr die thronende Gottesmutter mit dem Kinde), dass Theodosius den Obelisken nach Konstantinopel gebracht habe (vielmehr Julian), sowie die Deutung zweier Reliefs (wohl der Nord- und Ostseite) auf Truppenlöhnung und Gerichtssitzung (statt Huldigung der Barbaren und Aufrichtung des Obelisken). Auf die Beschreibung der byzantinischen folgt diejenige der türkischen Bauten, was den Verfasser zu einem Abstecher nach Brussa veranlasst, wo er die ältere türkische Kunst aufsucht. Eine tiefere Kenntnis des architektonischen Systems wird man auch hier vergeblich suchen, es bleibt dieselbe lebhaft ausmalende, aber einer klaren Zeichnung entbehrende Schilderung. Die Stalaktiten und Minarés versucht der Verfasser gar aus der Nachahmung von Naturformen (Bienenzellen und Schneckentürmchen) herzuleiten. In schnellem Wechsel der Bilder durcheilen wir dann wieder am Bosporus selbst die Jahrhunderte der türkischen Herrschaft. Mit der Schilderung des modernen Konstantinopel mit seinen Sultanschlössern und Moscheen im Stil der sogenannten türkischen Renaissance, deren sinnloses Forniengemisch etwas zu viel Gnade findet, seinen Bildungsanstalten (Museum), seinem Bazar, Bädern und Friedhöfen mit poetischen Grabschriften u. s. w. führt der Verfasser die Darstellung zu Ende. Es ist auf den zweihundert Seiten in der That das Bild der Stadt, wie sie leibt und lebt, wie Vergangenheit und Gegenwart sich in ihr vermischen. Alles ist darin, wenn es auch nur einen Augenblick auftaucht wie im Kaleidoskop. Die reichliche Illustration unterstützt die Wirkung, nur wäre da manches Cliché etwas grösser zu wünschen, um die Details der vortrefflichen Aufnahmen schärfer hervortreten zu lassen. o. w.
Die Kirchenthür des hl. Ambrosius in Mailand, ein Denkmal frühchristlicher Skulptur von Adolf Goldschmidt. Mit 6 Lichtdrucktafeln, Heitz in Strassburg, 1902 (3 M.).
Dass die durch die Wegweisung des Kaisers Theodosius seitens des hl. Ambrosius so berühmt gewordene Thür an St. Ambrogio in Mailand sich erhalten habe, melden verschiedentliche Überlieferungen. Es fehlte aber für sie die Bestätigung, bis diese sich durch Goldschmidt’s jüngste, überaus glückliche Entdeckung ergab. Den Weg zu ihr zeigten zwei im Kirchenarchiv aufbewahrte, ihrer Verletzungen wegen ausrangierte Holzreliefs spätrömischer Stilisierung, die 1750 ersetzt wurden bei der Restauration der Hauptthür, die später durch Drahtvergitterungen u. s. w. fast unkenntlich geworden, keine Beachtung mehr fand. Jetzt hat der Verfasser sie einer sorgfältigen ikonographischen, historischen, stilistischen Prüfung unterzogen und durch scharfsinnige Kombinationen festgestellt, dass die Scenen dem Leben David’s entnommen sind und dessen verschiedene Siege (über die Bestien, Saul’s bösen Geist und Goliath) darstellen, dass die figuralen wie die ornamentalen Formen auf die altchristliche Zeit hinweisen und diese (in Verbindung mit der Apologie David’s durch den hl. Ambrosius) kurz vor der Einweihung der Kirche (386) anzusetzen ist. — Die sechs scharfen Lichtdrucke erleichtern die Begleitung des Verfassers auf dem schwierigen Wege der Untersuchung, deren Ergebnis als zweifellos bezeichnet werden darf, so dass diese historisch merkwürdige Thür, welche die Thür von St. Sabina zu Rom an Alter noch übertrifft, zugleich eine archäologische Merkwürdigkeit ersten Ranges ist. sch.