KUNSTCHRONIK WOCHENSCHRIFT FÜR KUNST UND KUNSTGEWERBE
Verlag von E. A. SEEMANN in Leipzig, Querstr. 13 Neue Folge. XIV. Jahrgang 1902/1903
Nr. 26. 22. Mai.
Die Kunstchronik erscheint als Beiblatt zur »Zeitschrift für bildende Kunst« und zum »Kunstgewerbeblatt« monatlich dreimal, in den Sommermonaten Juli bis September monatlich einmal. Der Jahrgang kostet 8 Mark und umfasst 33 Nummern. Die Abonnenten der »Zeitschrift für bildende Kunst« erhalten die Kunstchronik kostenfrei. — Für Zeichnungen, Manuskripte etc., die unverlangt eingesandt werden, leisten Redaktion und Verlagshandlung keine Gewähr. Alle Briefschaften und Sendungen sind zu richten an E. A. Seemann, Leipzig, Querstrasse 13. Anzeigen 30 Pf. für die dreispaltige Petitzeile, nehmen ausser der Verlagshandlung die Annoncenexpeditionen von Ha äsen st ein 81 Vogler, Rud. Mosse u. s. w. an.
EIN NEUES MADONNENRELIEF DONATELLO’S
Das hier abgebildete Relief ist vor wenigen Wochen von dem Architekten Fed. Cordenons in Padua, dem wir einen so sorgsam durchdachten Rekonstruktionsversuch von Donatello’s Paduaner Santo-Altar verdanken, in Pinazzola vor den Thoren Paduas entdeckt worden. Es ist aus Terrakotta; die Bemalung ist verloren gegangen, der oberste Teil des Kopfes und der Mantelzipfel am rechten Ellbogen sind ergänzt; auch die Umrahmung ist neu. Das übrige ist intakt. Die Madonna ist sitzend gedacht, stark nach rechts gewandt, so dass die rechte Schulter
scharf heraus
kommt. Der leichte, vielgefältete Stoff lässt den Hals frei; die vollen Brüste treten durch die Binde, dieunmittelbar darunter liegt, stark hervor. Die grosse knochige Rechte schützt den nackten Kleinen vor dem Gleiten, während die Linke den sich lebhaft bewegenden im Rücken stützt. Um die beiden grossen
Köpfe liegen
schwere Heiligen
scheine; ein lebhaftes Augenspiel verbindet Mutter und Kind noch enger. Das in vielen feinen Falten herabhängende Kopftuch, dessen gerades Gerinnsel gegen die unruhigen übrigen Falten sich deutlich abhebt, lässt nur wenig von dem Haarschmuck Maria’s frei. Dieser ist eng anliegend, fest und strähnig be
handelt und deckt etwas absichtlich das rechte Ohr auf. Maria’s Haltung ist auffallend gerade; sie beugt sich nicht zum Kinde herüber, sondern hält dieses, wie um es in Mutterseligkeit besser betrachten zu können, etwas geneigt von sich. Die Arbeit ist sehr gut; es fällt aber auf, dass alle Zierglieder unterdrückt sind; nicht einmal die sonst so häufige Cherubimbrosche findet sich am Hals.
Dass dies Relief um die Mitte des 15. Jahrhunderts entstanden ist, als Donatello in Padua war, kann keinem Zweifel unterliegen. Aber die Grösse der Behandlung, die vornehme und temperamentvolle Art der Darstellung lassen meiner Meinung nur an Donatello selber denken. Der erste
Name, der mir inAbb. 1. Donatello, Terrakottarelief. Padua, Privatbesitz