KUNSTCHRONIK WOCHENSCHRIFT FÜR KUNST UND KUNSTOEWERBE
Verlag von E. A. SEEMANN in Leipzig, Querstr. 13 Neue Folge. XIV. Jahrgang 1902/1903
Nr. 30. 26. Juni.
Die Kunstchronik erscheint als Beiblatt zur »Zeitschrift für bildende Kunst« und zum »Kunstgewerbeblatt« monatlich dreimal, in den Sommermonaten Juli bis September monatlich einmal. Der Jahrgang kostet 8 Mark und umfasst 33 Nummern. Die Abonnenten der »Zeitschrift für bildende Kunst« erhalten die Kunstchronik kostenfrei. — Für Zeichnungen, Manuskripte etc., die unverlangt eingesandt werden, leisten Redaktion und Verlagshandlung keine Gewähr. Alle Briefschaften und Sendungen sind zu richten an E. A. Seemann, Leipzig, Querstrasse 13. Anzeigen 30 Pf. für die dreispaltige Petitzeile, nehmen ausser der Verlagshandlung die Annoncenexpeditionen von Haasenstein & Vogler, Rud. Mosse u. s. w. an.
LONDONER BRIEF
Die Ausstellung in der Königlichen Akademie wurde in den ersten Wochen geradezu von Besuchern überflutet, so dass für Liebhaber und Kenner eine eingehende Besichtigung der Gemälde mit ausserordentlichen Schwierigkeiten verknüpft war. Eine ganze Reihe der von mir in der »Kunstchronik« Nr. 24 als Atelierbilder erwähnten Werke hat inzwischen hier und in der »New Gallery« Aufnahme gefunden. Nachzuholen sind von Sargent: Mrs. Wernher, Mrs. Philipp Agnew, Lord Cromer, wenn man so sagen darf, der Regent Ägyptens,, und Mrs. Joseph Chamberlain, die Gattin des Kolonialministers, geborene Endicott, eine Landsmännin des Künstlers. Durch drei Porträts hat Charles Furse begonnen, sich den Weg für eine grosse Zukunft zu bahnen. Es sind dies: der Admiral Lord Charles Beresford, der Oberstlieutenant Sir John Jewis und »Die Rückkehr vom Ritt«.
Für die Aquarellbilder, Skulpturen und hinsichtlich der Vertretung der graphischen Künste, kann der Durchschnitt nur als schwach bezeichnet werden. Die Akademie thut nichts, um den Kupferstechern in ihrem Kampf mit der mechanischen Wiedergabe beizustehen, sie will grundsätzlich weder Kupferstecher noch Aquarellisten zu Mitgliedern wählen, und können deshalb namentlich Werke der letzteren hier niemals hervorragend vertreten sein, weil diese Künstler gezwungen wurden, die beiden Spezialinstitute Londons aufzusuchen. Zum grossen Verdruss der Aquarellmaler, und thatsächlich zu ihrem Nachteil, werden in der Presse ihre Arbeiten unausgesetzt »Drawings«, Zeichnungen, genannt. Durch diesen Umstand entstehen besonders für das Ausland die irrigsten Begriffe, ja, mitunter sogar vollständig Widersinniges und Unerklärbares. Die unausgesetzte Klage der Künstler, über die rücksichtslose Ausbeute des Rechtes der Akademiker: acht Werke ohne Prüfung einzusenden, hat jetzt einen leidlichen Kompromissabschluss erreicht. Die Akademie nimmt nunmehr von jedem Mitgliede nur sechs Arbeiten an, während von den übrigen Künstlern, statt der bisher der Hängekommission höchstens vorzulegenden zwei Gemälden u. s. w., die Zahl auf drei normiert wird.
Fast der einzige Künstler, der in dieser Beziehung
eine Ausnahme machte, und hier wie in allen anderen Lebensverhältnissen sich gross und generös bewies, war Watts. Dieser Meister sandte stets eine nur sehr beschränkte Anzahl von Gemälden zur Ausstellung, um seinen Kollegen keinen Platz zu rauben; so ist er diesmal nur durch eine Baumstudie vertreten, der er den Namen »Parasit« gab. Es handelt sich um einen mächtigen, von Epheu umrankten Stamm, der schliesslich in dem Kampfe ums Dasein unterliegen wird. Als ich das Gemälde im Entstehen, in dem Landatelier des Meisters, in Surrey, sah, nannte er dasselbe »Fensterstudie«. Auf meine Frage wies er nach dem Fenster, von dem aus man den Baumriesen erblicken konnte. Man wird sich entsinnen, dass der Meister seine Mitgliedschaft der Akademie vor einigen Jahren unter der Begründung aufgab, indem er schrieb: »Ich fühle, dass meine Kräfte nachlassen und verzichte deshalb auf das Recht, ohne Prüfung der Kommission, derselben Werke von mir einzusenden«. Allerdings wurde er sofort nach seinem Austritt zum Ehrenmitglied gewählt. Eine gute Neuerung in den Räumen der Akademie besteht darin, dass Marmorbüsten der Präsidenten von Reynolds bis Leighton in der Eintrittshalle Aufstellung gefunden haben.
ln »Leighton House« hat Mrs. Barrington eine Ausstellung von ca. 40 Werken von Watts ins Leben gerufen, die sämtliche Epochen des Meisters umfasst und mit dem Jahre 1838 beginnt. Auf zwei Punkte möchte ich bei dieser Gelegenheit besonders aufmerksam machen: der eine, bisher fast gänzlich unbekannt, besteht darin, dass der Künstler in seiner Jugendepoche Genrebilder gemalt hat, die, so unglaublich es erscheinen mag, an Morland erinnern. Es sind dies die Nummern 3, 4, 5 und 6 in dem von Mrs. Barrington verfassten Katalog. Die genannte Dame ist eine Freundin, Schülerin und Nachbarin von Watts, und besitzt ausserdem das Verdienst, einen sehr gediegenen Katalog für die früher in Amerika stattgefundene »Watts-Ausstellung« hergestelltzu haben. Die an Morland anklingenden Bildchen stellen ländliche Scenen mit Figuren dar. Überhaupt aber bieten die frühen Werke des Künstlers abermals den Beweis, dass ein Anfänger, wenn er auch noch so genial veranlagt ist, sich doch zunächst seiner Zeitrichtung nicht zu entziehen vermag.
Der andere Punkt von Wichtigkeit betrifft Watts’
Verlag von E. A. SEEMANN in Leipzig, Querstr. 13 Neue Folge. XIV. Jahrgang 1902/1903
Nr. 30. 26. Juni.
Die Kunstchronik erscheint als Beiblatt zur »Zeitschrift für bildende Kunst« und zum »Kunstgewerbeblatt« monatlich dreimal, in den Sommermonaten Juli bis September monatlich einmal. Der Jahrgang kostet 8 Mark und umfasst 33 Nummern. Die Abonnenten der »Zeitschrift für bildende Kunst« erhalten die Kunstchronik kostenfrei. — Für Zeichnungen, Manuskripte etc., die unverlangt eingesandt werden, leisten Redaktion und Verlagshandlung keine Gewähr. Alle Briefschaften und Sendungen sind zu richten an E. A. Seemann, Leipzig, Querstrasse 13. Anzeigen 30 Pf. für die dreispaltige Petitzeile, nehmen ausser der Verlagshandlung die Annoncenexpeditionen von Haasenstein & Vogler, Rud. Mosse u. s. w. an.
LONDONER BRIEF
Die Ausstellung in der Königlichen Akademie wurde in den ersten Wochen geradezu von Besuchern überflutet, so dass für Liebhaber und Kenner eine eingehende Besichtigung der Gemälde mit ausserordentlichen Schwierigkeiten verknüpft war. Eine ganze Reihe der von mir in der »Kunstchronik« Nr. 24 als Atelierbilder erwähnten Werke hat inzwischen hier und in der »New Gallery« Aufnahme gefunden. Nachzuholen sind von Sargent: Mrs. Wernher, Mrs. Philipp Agnew, Lord Cromer, wenn man so sagen darf, der Regent Ägyptens,, und Mrs. Joseph Chamberlain, die Gattin des Kolonialministers, geborene Endicott, eine Landsmännin des Künstlers. Durch drei Porträts hat Charles Furse begonnen, sich den Weg für eine grosse Zukunft zu bahnen. Es sind dies: der Admiral Lord Charles Beresford, der Oberstlieutenant Sir John Jewis und »Die Rückkehr vom Ritt«.
Für die Aquarellbilder, Skulpturen und hinsichtlich der Vertretung der graphischen Künste, kann der Durchschnitt nur als schwach bezeichnet werden. Die Akademie thut nichts, um den Kupferstechern in ihrem Kampf mit der mechanischen Wiedergabe beizustehen, sie will grundsätzlich weder Kupferstecher noch Aquarellisten zu Mitgliedern wählen, und können deshalb namentlich Werke der letzteren hier niemals hervorragend vertreten sein, weil diese Künstler gezwungen wurden, die beiden Spezialinstitute Londons aufzusuchen. Zum grossen Verdruss der Aquarellmaler, und thatsächlich zu ihrem Nachteil, werden in der Presse ihre Arbeiten unausgesetzt »Drawings«, Zeichnungen, genannt. Durch diesen Umstand entstehen besonders für das Ausland die irrigsten Begriffe, ja, mitunter sogar vollständig Widersinniges und Unerklärbares. Die unausgesetzte Klage der Künstler, über die rücksichtslose Ausbeute des Rechtes der Akademiker: acht Werke ohne Prüfung einzusenden, hat jetzt einen leidlichen Kompromissabschluss erreicht. Die Akademie nimmt nunmehr von jedem Mitgliede nur sechs Arbeiten an, während von den übrigen Künstlern, statt der bisher der Hängekommission höchstens vorzulegenden zwei Gemälden u. s. w., die Zahl auf drei normiert wird.
Fast der einzige Künstler, der in dieser Beziehung
eine Ausnahme machte, und hier wie in allen anderen Lebensverhältnissen sich gross und generös bewies, war Watts. Dieser Meister sandte stets eine nur sehr beschränkte Anzahl von Gemälden zur Ausstellung, um seinen Kollegen keinen Platz zu rauben; so ist er diesmal nur durch eine Baumstudie vertreten, der er den Namen »Parasit« gab. Es handelt sich um einen mächtigen, von Epheu umrankten Stamm, der schliesslich in dem Kampfe ums Dasein unterliegen wird. Als ich das Gemälde im Entstehen, in dem Landatelier des Meisters, in Surrey, sah, nannte er dasselbe »Fensterstudie«. Auf meine Frage wies er nach dem Fenster, von dem aus man den Baumriesen erblicken konnte. Man wird sich entsinnen, dass der Meister seine Mitgliedschaft der Akademie vor einigen Jahren unter der Begründung aufgab, indem er schrieb: »Ich fühle, dass meine Kräfte nachlassen und verzichte deshalb auf das Recht, ohne Prüfung der Kommission, derselben Werke von mir einzusenden«. Allerdings wurde er sofort nach seinem Austritt zum Ehrenmitglied gewählt. Eine gute Neuerung in den Räumen der Akademie besteht darin, dass Marmorbüsten der Präsidenten von Reynolds bis Leighton in der Eintrittshalle Aufstellung gefunden haben.
ln »Leighton House« hat Mrs. Barrington eine Ausstellung von ca. 40 Werken von Watts ins Leben gerufen, die sämtliche Epochen des Meisters umfasst und mit dem Jahre 1838 beginnt. Auf zwei Punkte möchte ich bei dieser Gelegenheit besonders aufmerksam machen: der eine, bisher fast gänzlich unbekannt, besteht darin, dass der Künstler in seiner Jugendepoche Genrebilder gemalt hat, die, so unglaublich es erscheinen mag, an Morland erinnern. Es sind dies die Nummern 3, 4, 5 und 6 in dem von Mrs. Barrington verfassten Katalog. Die genannte Dame ist eine Freundin, Schülerin und Nachbarin von Watts, und besitzt ausserdem das Verdienst, einen sehr gediegenen Katalog für die früher in Amerika stattgefundene »Watts-Ausstellung« hergestelltzu haben. Die an Morland anklingenden Bildchen stellen ländliche Scenen mit Figuren dar. Überhaupt aber bieten die frühen Werke des Künstlers abermals den Beweis, dass ein Anfänger, wenn er auch noch so genial veranlagt ist, sich doch zunächst seiner Zeitrichtung nicht zu entziehen vermag.
Der andere Punkt von Wichtigkeit betrifft Watts’